Zum 75. Todestag von Gustav Radbruch
Von Hasso Lieber, PariJus
Vier verschiedene Staatssysteme haben das Leben von Gustav Radbruch (* 21.11.1878, † 23.11.1949) geprägt – das Kaiserreich, in dem er studierte und 1914 einen ersten Ruf auf eine außerordentliche Professur für Strafrecht an der Universität Königsberg bekam, die Weimarer Republik, in der er sich der aktiven Politik zuwandte, 1918 in die SPD eintrat und ab 1920 Reichstagsabgeordneter sowie zweimal zum Reichsjustizminister berufen wurde, die Nazi-Diktatur, die ihn schon im Frühjahr 1933 seines Amtes enthoben und an jeder Lehrtätigkeit gehindert hatte, und die Bonner Republik, deren Grundgesetz er gerade noch erlebt hatte.
Die unterschiedlichen Erfahrungen entwickelten sein Verhältnis und seine Distanz zur „reinen Juristerei“. In seinem Lehrbuch der Rechtsphilosophie schrieb er 1932 noch:
Für den Richter ist es Berufspflicht, den Willen des Gesetzes zur Geltung zu bringen, das eigene Rechtsgefühl dem autoritativen Rechtsbefehl zu opfern, nur zu fragen, was rechtens ist und niemals, ob es auch gerecht sei.
Diese Auffassung korrigierte er nach dem Zweiten Weltkrieg durch die nach ihm benannte Formel, wonach auch
formell zustande gekommenes Recht dann keine Geltung mehr beanspruchen kann, wenn der Widerspruch zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, dass das Gesetz als ‚unrichtiges Recht‘ der Gerechtigkeit zu weichen hat.
Die Sicht auf die (vielfach ausgeprägte soziale, ökonomische, moralische usw.) Gerechtigkeit ist nicht notwendig abhängig von einer juristischen Ausbildung. Und wann ein Widerspruch zu (welcher) Gerechtigkeit „unerträglich“ wird, kann nicht dem Vorverständnis eines einzelnen Richters überlassen sein, sondern muss im Dialog eines Spruchkörpers geschärft werden. Deshalb war Radbruchs Blick auf die Beteiligung ehrenamtlicher Richter von einer ebenso rationalen wie pragmatischen Einstellung geprägt. Ihre Beteiligung rechtfertige sich in den einzelnen Gerichtsbarkeiten aus unterschiedlichen Motiven. In der Strafgerichtsbarkeit sollen die Schöffen vor allem die Macht der Richterbürokratie beschränken, in der Zivilgerichtsbarkeit (Kammer für Handelssachen, Arbeitsgerichte) als fach- und sachverständige Richter den rechtsverständigen Berufsrichter unterstützen, sowie den von ihnen vertretenen Berufsklassen bei der Fortbildung des Rechts Beachtung verschaffen. Bildlich hat er dies eingänglich formuliert, dass – vor allem in der Strafrechtsprechung – auf „ein Lot Rechtskenntnis ein Zentner Menschenkenntnis komme“. Im Richterbild von Radbruch spiegelt sich der Luther‘sche Ausspruch wider: „Ein Jurist, der nicht mehr ist als ein Jurist, ist ein armselig Ding.“ Eine Sicht, die den (ökonomisch bedingten) Trend zum Einzelrichter mit erheblichen Zweifeln versieht. Ein Gericht braucht mehr als nur Rechtskenntnisse. Diese Auffassung spiegelt auch die aus Radbruchs Feder stammende Resolution zur Rechtspflege vom Görlitzer Parteitag der SPD 1921 mit der Forderung: „Die Strafgerichte aller Arten und Stufen sind mit Laienbeisitzern zu besetzen, die Schöffen und Geschworenen nach dem Grundsatze der Verhältniswahl zu wählen …“
Gerade im Strafrecht, wo der Staat mit größter Macht in das Leben der Bürger eingreift, war Radbruch seiner Zeit um ein halbes Jahrhundert voraus. Sein als Reichsjustizminister eigenhändig, gegen den Widerstand seines Ressorts verfasster und begründeter Entwurf zu einer Reform des StGB sah bereits die Abschaffung der Strafbarkeit des Ehebruchs und der homosexuellen Betätigung Erwachsener vor. Noch bevor sich das Kabinett damit befassen konnte, trat die Regierung zurück. Sein Appell, dass man unter den gegenwärtigen Verhältnissen nur „mit schlechtem Gewissen“ Jurist sein könne, verdient ins Gedächtnis gerufen zu werden, wo heutzutage selbst Berufsrichter davon sprechen, dass Hauptverhandlungen spannend sein können und Spaß machen sollten. Insofern sei zu seinem 75. Todestag festgehalten: Radbruch lebt!
Weitere Informationen:
Gustav Radbruch als Reichsjustizminister (1921-1923), Hrsg.: Friedrich-Ebert-Stiftung, Forum Berlin, Berlin 2004 [Abruf: 20.12.2024].
Rechtsphilosoph – Gustav Radbruch und der Umgang mit ungerechten Gesetzen, Deutschlandfunk, Kalenderblatt vom 23.11.2024 [Abruf: 20.12.2024].
Zitiervorschlag: Hasso Lieber, Zum 75. Todestag von Gustav Radbruch, in: LAIKOS Journal Online 2 (2024) Ausg. 4, S. 166.