Vor 50 Jahren – Das 1. StVRG: Etablierung des heutigen Schöffensystems
Von Ursula Sens, PariJus
Vorabdruck – LAIKOS Journal Online 2024, Ausg. 3 – Rückblick
I. Vorgeschichte
Nach 1945 gestalteten sich der Wiederaufbau und die Rückkehr zu rechtsstaatlichen Strukturen in den von den Alliierten gebildeten Besatzungszonen unterschiedlich; entsprechend wirkten auch Schöffen und Geschworene in unterschiedlicher Weise an der Strafrechtspflege mit. Grundsätzlich sollte die Laienbeteiligung an der Strafrechtspflege wieder an liberale und demokratische Traditionen anknüpfen. Anlässlich der Diskussion über die Neuordnung der Justiz auf dem Konstanzer Juristentag 1947 ließ Eduard Kern in seinem Vortrag keinen Zweifel über die Mitwirkung von Laienrichtern: „Die Frage, ob in Deutschland das Volk an der Rechtspflege mitwirken soll, ist eigentlich gar keine Frage; ihre Bejahung ist selbstverständlich. In der Demokratie darf das Volk nicht bloß Objekt der Rechtsprechung sein, sondern es muß auch ihr Subjekt sein …“1 In den neu entstehenden Ländern fand die ausdrückliche Beteiligung von „Männern und Frauen aus dem Volke“ Eingang in mehrere Landesverfassungen.
Mit der Wiederherstellung der Rechtseinheit 1950, die die Anforderungen des Grundgesetzes berücksichtigen musste, wurde die Beteiligung von Laienrichtern in der Bundesrepublik Deutschland einheitlich geregelt.2 Auf eine gesamte Reform der Gerichtsverfassung wurde verzichtet; im Wesentlichen wurde auf die vor 1933 geltende Gerichtsverfassung der Emminger-Verordnung von 1924 mit einem Nebeneinander von Schöffen- und Schwurgericht zurückgegriffen.3 Die erstinstanzliche Zuständigkeit der Strafkammern mit drei Berufsrichtern und zwei Schöffen wurde aber wieder eingeführt. Eine weitere Neuerung war die Wahl der Schöffen und Geschworenen dahingehend, dass die Urliste, ein Verzeichnis aller schöffenfähigen Einwohner der Gemeinde, durch eine von den Gemeindevertretungen erstellte Vorschlagsliste ersetzt wurde. Dieses bereits in der Britischen Zone und Hessen erprobte Verfahren sollte für eine bessere Auswahl besonders geeigneter Bürger sorgen.4
Umfassende Reformen brachte das „Erste Gesetz zur Reform des Strafverfahrensrechts“ (1. StVRG) vom 9.12.1974 mit tiefgreifenden Auswirkungen auf das Schwurgericht sowie Verbesserungen hinsichtlich Auswahl, Amtsdauer und Heranziehung der Schöffen.5 Oberstes Ziel des 1. StVRG war aber die Straffung und Beschleunigung des Strafverfahrens, insbesondere auch mit Änderungen des Strafprozessrechts.
II. Reduzierung der Schöffenbank im Schwurgericht
Mit der Emminger-Verordnung von 1924 war das klassische Schwurgericht mit der Trennung von Geschworenen- und Richterbank in eine Große Strafkammer mit drei Berufsrichtern und sechs (früher: zwölf) Geschworenen unter Beibehaltung des Namens umgewandelt worden. Die Übernahme dieser Regelung mit der Wiederherstellung der Rechtseinheit 1950 bedeutete somit, dass die Geschworenen aufgrund der Zwei-Drittel-Mehrheit gegen die Berufsrichter eine Verurteilung durchsetzen konnten.
Das 1. StVRG sah weitere Änderungen der Schwurgerichtsverfassung vor. Aus dem bis dahin nur periodisch tagenden Schwurgericht wurde ein ständig tagender Spruchkörper des Landgerichts, damit Fälle schwerster Kriminalität, vor allem Tötungsdelikte, zügiger erledigt werden konnten. Die Bezeichnung der Strafkammer als Schwurgericht wurde beibehalten; die Bezeichnung „Geschworener“ war (richtigerweise) schon 1972 durch „Schöffe“ ersetzt worden.6 Die Zahl der Schöffen wurde auf zwei verringert mit der Begründung, dass das historische Argument, zahlreiche Geschworene schafften ein wirksames Gegengewicht gegen abhängige richterliche Beamte, überholt sei. Tatsächlich hatten die Schöffen mit der Zwei-Drittel-Mehrheit die Möglichkeit verloren, in den dem Angeklagten nachteiligen Entscheidungen über die Schuld und die Rechtsfolgen der Tat die Berufsrichter zu überstimmen; geblieben war eine Sperrminorität zugunsten des Angeklagten, mit der die Schöffen eine Verurteilung gegen die Stimmen der Berufsrichter verhindern konnten.
Dazu heißt es in der Begründung:7
„Die Gesichtspunkte, die früher beim Schwurgericht für das Übergewicht der ehrenamtlichen Richter maßgebend waren, sind heute entfallen. Damals war die Vorstellung bestimmend, daß der angeklagte Bürger durch die Jury der Geschworenen vor Übergriffen des Obrigkeitsstaates bewahrt werden müßte, weil das Vertrauen des Volkes in die Unabhängigkeit der Berufsrichter wenig gefestigt war. Heute gibt die Mitwirkung ehrenamtlicher Richter an der Strafrechtspflege dem Volk, in dessen Namen Recht gesprochen wird, unmittelbaren Einfluß auf den Inhalt der Rechtsprechung. Damit soll zugleich sichergestellt werden, daß die Entscheidungen auch von juristisch nicht Vorgebildeten nachvollzogen werden können. Hierdurch wird auch Entscheidungen vorgebeugt, die im Volk kein Verständnis finden würden. Damit ist die Begründung für ein Übergewicht der Stimmen der ehrenamtlichen Richter im Schwurgericht entfallen. Es kommt vielmehr auf ein Zusammenwirken zwischen den ehrenamtlichen Richtern und den Berufsrichtern an und damit auf eine Besetzung, die dieses Zusammenwirken bei der gemeinsamen Willensbildung in der Schuldfrage und in der Strafbemessung wirksam werden läßt. Der Entwurf will deshalb das nach geltendem Recht bestehende Stimmenverhältnis so ändern, daß wie bei der Schwerkriminalität eine Übereinstimmung von ehrenamtlichen Richtern mit Berufsrichtern für den Fall der Verurteilung erforderlich ist. Deshalb ist eine Besetzung des Schwurgerichts mit drei Berufsrichtern und zwei ehrenamtlichen Richtern vorgesehen. Da für einen Schuldspruch bei einer solchen Besetzung eine Mehrheit von vier Stimmen erforderlich ist, setzt damit der Schuldspruch des Schwurgerichts die übereinstimmende Beurteilung von zwei ehrenamtlichen Richtern und zwei Berufsrichtern, oder von einem ehrenamtlichen Richter und drei Berufsrichtern voraus.“
III. Weitere Änderungen des GVG
Einige Vorschriften über die Auswahl und Heranziehung der Schöffen wurden geändert, die bereits im Vorfeld zur Diskussion standen:8
1. Das Mindestalter der Schöffen wurde auf Empfehlung des Rechtsausschusses auf 25 Jahre herabgesetzt (§ 33 Nr. 1 GVG) mit der Begründung, dass die Angehörigen der Altersgruppe zwischen 25 und 30 Jahren bereits verantwortungsvolle Tätigkeiten ausübten und aufgrund frühzeitiger Konfrontation mit den Problemen des staatlichen und wirtschaftlichen Lebens zum Schöffenamt befähigt seien. Im Gesetzentwurf lag die Mindestaltersgrenze noch bei Vollendung des 30. Lebensjahres bei Beginn der Amtsperiode; der Bundesrat hatte eine Altersgrenze von 27 Jahren vorgeschlagen.
2. Neu eingeführt wurde die Höchstaltersgrenze von 70 Jahren bei Beginn der Amtszeit (§ 33 Nr. 2 GVG). Diese sei geboten, „weil die Mitwirkung in der Strafrechtspflege eine große körperliche Spannkraft und geistige Beweglichkeit erfordern“. Der Bundesrat hatte noch eine Höchstaltersgrenze von 68 Jahren vorgeschlagen.
3. Die Ungeeignetheit aus beruflichen Gründen wurde um Bedienstete des Strafvollzugs und hauptamtliche Bewährungs- und Gerichtshelfer ergänzt (§ 34 Abs. 1 Nr. 5 GVG). Die Angehörigen dieser Berufsgruppen sollen aus ähnlichen Gründen wie gerichtliche Vollstreckungsbeamte und Polizeivollzugsbeamte nicht das Schöffenamt wahrnehmen.
4. Um einen hinreichenden Wechsel der Schöffen zu gewährleisten und „die notwendige Verbindung der Bevölkerung mit der Strafrechtspflege zu sichern“, wurde die Wiederwahl nach acht Jahren (zwei Amtsperioden) beschränkt. Eine Wiederwahl durfte frühestens nach Ablauf von weiteren acht Jahren erfolgen (§ 34 Abs. 1 Nr. 7 GVG a. F.). Weiteres Argument für eine „Zwangspause“ war, dass Schöffen infolge langjähriger Tätigkeit ihre Unbefangenheit verlieren könnten. Der Bundesrat sah dagegen den größeren Wert „in länger amtierenden, eingearbeiteten und sicherer gewordenen Schöffen und Geschworenen“.
Nach der Festsetzung der Amtsperiode für alle ehrenamtlichen Richter einheitlich auf fünf Jahre wurde die Pause auf eine Amtsperiode reduziert.9 Inzwischen wurde der Ausschlussgrund in einen Ablehnungsgrund geändert, sodass die Wiederwahl ohne Einschränkung im Rahmen der allgemeinen Voraussetzungen zulässig ist.10
5. Die Ablehnungsgründe wurden der gesellschaftlichen Entwicklung angepasst (§ 35 GVG):
- Das Ablehnungsrecht für Personen, die in der vorhergehenden Amtsperiode die Verpflichtung an 40 Tagen erfüllt haben oder das richterliche Ehrenamt in einer anderen Gerichtsbarkeit ausüben, soll vor übermäßiger Belastung schützen (Nr. 2).
- Die Ausdehnung des Ablehnungsrechts auf weitere Heil- und Heilhilfsberufe (Zahnärzte, Kranken- und Kinderkrankenschwestern) soll vor Beeinträchtigung der Gesundheitsfürsorge schützen (Nr. 3).
- Apothekenleiter, die keinen weiteren Apotheker beschäftigen, sind ablehnungsberechtigt, um neben der Versorgung mit Arzneimitteln auch die Tätigkeit von Personen, die nicht Apotheker sind, zu beaufsichtigen (Nr. 4).
- Der ablehnungsberechtigte Personenkreis, dem die persönliche Fürsorge für die Familie obliegt, wurde erweitert (Nr. 5). Vorher hatten nur Frauen dieses Ablehnungsrecht. Die Änderung soll „der soziologisch veränderten Stellung von Mann und Frau in der modernen Gesellschaft“ (Art. 3 GG) Rechnung tragen. Es werden auch Fälle erfasst, in denen die Ehefrau berufstätig ist und der Ehemann die Fürsorge für die Familie übernimmt.
- Eine neue Regelung über das Ablehnungsrecht aus Altersgründen wurde eingeführt. Personen, die zu Beginn der Amtsperiode bereits das 65. Lebensjahr vollendet haben oder während der Amtsperiode vollenden würden, dürfen das Schöffenamt ablehnen (Nr. 6).
6. Die Amtsperiode wurde auf vier (bisher zwei) Jahre verlängert (§ 36 Abs. 1 GVG a. F.). Die Bundesregierung hatte in ihrem Gesetzentwurf eine Verlängerung auf drei Jahre vorgesehen. Der Bundesrat hat eine vierjährige Amtszeit durchgesetzt aufgrund des geringeren Verwaltungsaufwandes der Gemeinden. Zudem könnte „die notwendige Verbindung der Bevölkerung mit der Strafrechtspflege“ durch eine längere Amtsperiode gesichert werden.
7. Bei der Aufstellung der Vorschlagsliste und der Wahl der Schöffen soll ausdrücklich darauf geachtet werden, dass alle Gruppen der Bevölkerung nach Geschlecht, Alter, Beruf und sozialer Stellung angemessen berücksichtigt werden (§§ 36 Abs. 2, 42 Abs. 2 GVG). Außerdem werden die Gemeinden verpflichtet, bestimmte Daten der vorgeschlagenen Personen in die Vorschlagsliste aufzunehmen, um bei Einholung von Auskünften aus dem Bundeszentralregister eine bessere Identifizierung dieser Personen zu ermöglichen.
8. Weitere Bestimmungen sollen sicherstellen, dass die Zahl der Hauptschöffen so zu bemessen ist, dass jeder zu voraussichtlich nicht mehr als zwölf ordentlichen Sitzungstagen im Jahr herangezogen wird, und die Auslosung entsprechend dieser Vorgabe erfolgen soll (§§ 43, 45 GVG).
9. Die frühere Regelung in § 54 Abs. 2 GVG, einen Schöffen auch ohne das Vorliegen der gesetzlichen Hinderungsgründe von der Dienstleistung zu entbinden, wenn ein anderer Schöffe freiwillig für ihn eintritt, wurde aufgehoben. Dabei wurden verfassungsrechtliche Bedenken hinsichtlich der Wahrung des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) berücksichtigt. Die Befreiung von der Dienstleistung soll nur noch bei Vorliegen von Hinderungsgründen zulässig sein.
IV. Fazit
Unser heutiges Schöffensystem wurde durch das 1. StVRG vom 9.12.1974 entscheidend geprägt. Es regelte die Mitwirkung der Schöffen nach einheitlichen Maßstäben, sodass heute alle Schöffengerichte und Strafkammern – einschließlich der Schwurgerichte – grundsätzlich mit zwei Schöffen besetzt sind.
Der Gesetzentwurf, der das zahlenmäßige Übergewicht der Schöffen gegenüber den Berufsrichtern im Schwurgericht abschaffte, stammte von der sozialliberalen Bundesregierung unter Bundeskanzler Willy Brandt, der in seiner Regierungserklärung 1969 „Mehr Demokratie wagen“ wollte, und sozialdemokratischen Bundesjustizministern. Gerhard Werner stellte nach Abwägung der Vor- und Nachteile der neuen Schwurgerichtsverfassung fest, dass das Gesetz „eine bedeutende Einschränkung der Mitwirkung ehrenamtlicher Richter an der Aburteilung der Schwerkriminalität“ darstellt.11 Weitere Reduzierungen der Teilhabe der Zivilgesellschaft an der Rechtsprechung sollten folgen.
Zitiervorschlag: Ursula Sens, Vor 50 Jahren – Das 1. StVRG: Etablierung des heutigen Schöffensystems, in: LAIKOS Journal Online 2 (2024) Ausg. 3.
- Eduard Kern, Die Beteiligung des Volkes an der Strafrechtspflege, in: Der
Konstanzer Juristentag, 1947, S. 135.[↩] - Gesetz zur Wiederherstellung der Rechtseinheit auf dem Gebiete der Gerichtsverfassung, der bürgerlichen Rechtspflege, des Strafverfahrens und des Kostenrechts, BGBl 1950, S. 455.[↩]
- Verordnung über Gerichtsverfassung und Strafrechtspflege, RGBl I 1924, S. 15; Ursula Sens, Vor 100 Jahren – Die Lex Emminger vom 4. Januar 1924, LAIKOS Journal Online 2024, S. 47.[↩]
- BT-Drs. 1/530, Anl. 1a, S. 7 (Zu Nr. 25).[↩]
- 1. StVRG, BGBl I 1974, S. 3393, 3404; die Vorschriften des GVG zur Schöffenwahl waren erstmals auf die am 1.1.1977 beginnende Amtsperiode anzuwenden.[↩]
- Gesetz zur Änderung der Bezeichnungen der Richter und ehrenamtlichen Richter und der Präsidialverfassung der Gerichte, BGBl I 1972, S. 841, 844 (§ 81).[↩]
- BT-Drs. 7/551, S. 54.[↩]
- Zu den einzelnen Gründen: BT-Drs. 7/551, S. 54 ff., 98 ff. mit Anl. 2 Stellungnahme des Bundesrates, S. 148 und Anl. 3 Gegenäußerung der Bundesregierung zu der Stellungnahme des Bundesrates, S. 157; BT-Drs. 7/2600, Bericht und Antrag des Rechtsausschusses, S. 9 ff.[↩]
- Gesetz zur Vereinfachung und Vereinheitlichung der Verfahrensvorschriften zur Wahl und Berufung ehrenamtlicher Richter, BGBl I 2004, S. 3599.[↩]
- Zweites Gesetz zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Strafverfahren und zur Änderung des Schöffenrechts, BGBl I 2017, S. 3295, 3297.[↩]
- Gerhard Werner, Die Änderung der Schwurgerichtsverfassung durch das Erste Gesetz zur Reform des Strafverfahrensrechtes, Goltdammer’s Archiv für Strafrecht 1974, S. 14, 24.[↩]