„Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“
75 Jahre Grundgesetz
Von Ursula Sens, PariJus gGmbH
Einer der wichtigsten, in seiner praktischen Reichweite aber umstrittene Artikel unserer Verfassung ist der, der der Staatsform ihren Namen gibt – Demokratie, die Herrschaft des Volkes. In der Sprache des Grundgesetzes: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“ (Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG). Die Norm hat ihren Vorläufer in der Weimarer Reichsverfassung (WRV) von 1919. Als erste deutsche Verfassung legte sie die staatliche Gewalt in die Hand des Volkes und machte Deutschland zur „res publica“, zur Republik, in der die Staatsgewalt nicht mehr dem Herrschaftsanspruch einer Oberschicht entsprang. Das Prinzip der Volkssouveränität leitete die WRV in Art. 1 Satz 2 ein: „Die Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ Zum „Volk“ in diesem Sinn gehörten auch die Frauen, die bei der Wahl zur Verfassunggebenden Nationalversammlung am 19. Januar 1919 erstmals im gesamten Deutschen Reich wählen und gewählt werden konnten. Von den 423 Mitgliedern errangen 37 Frauen ein Mandat. Bis Frauen auch Schöffinnen, Geschworene und Richterinnen werden konnten, dauerte es noch einmal bis 1922.
Die Mütter und Väter des Grundgesetzes zogen Lehren aus den Weimarer Erfahrungen, deren Scheitern nicht an Mängeln der Verfassung lag, sondern einem Mangel an Demokraten. Das Grundgesetz vom 23. Mai 1949 hat mit Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG, wonach alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht, die zentrale Aussage über die Bindung der Staatsgewalt übernommen. Der kleine Unterschied zwischen „Die“ und „Alle“ Staatsgewalt trägt dem Umstand Rechnung, dass es mehrere Formen der Staatsgewalt gibt und keine von der Bindung ausgenommen ist. Systematisch hat das Grundgesetz eine Änderung vorgenommen. Artikel 1 bis 19 GG räumen den garantierten Grundrechten wie Freiheit, Gleichheit und Würde des Individuums Vorrang ein. Die Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht (Art. 1 Abs. 3 GG).
Das Volk übt die Staatsgewalt in Wahlen und Abstimmungen sowie durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung aus (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG). Diese Aufzählung spiegelt die Trennung der drei Gewalten Gesetzgebung, Gesetzesvollzug und Rechtsprechung wider und bildet die Basis für die repräsentative Demokratie, die auch Formen unmittelbarer Demokratie zulässt, wie der Begriff der „Abstimmung“ deutlich macht. Die Kompetenz der Staatsorgane ist nach Inhalt und Umfang rechtsstaatlich gebunden und begrenzt.
Zur Legitimation ist staatliches Handeln in einer funktionsfähigen Demokratie so zu organisieren, dass es sich vom Willen des Volkes konkret herleiten bzw. darauf zurückführen lässt. Dabei bezeichnet der Begriff „Volk“ das Staatsvolk, die Gesamtheit der Staatsbürger. Die zunehmende Internationalisierung des Rechts schlägt sich auch in der Entwicklung des Verfassungsrechts nieder. Seit der Einführung der Unionsbürgerschaft im Vertrag von Maastricht (1992) erhalten EU-Bürger, die in einem anderen Mitgliedstaat leben, das Recht, in diesem Land an Wahlen auf kommunaler Ebene teilzunehmen. In Deutschland wird dieses Recht durch Art. 28 Abs. 1 Satz 3 GG gewährleistet.
Mit der Wahl überträgt das Staatsvolk die Befugnis zur Gesetzgebung auf das Parlament, das zur weiteren Ausführung Kompetenzen zum Erlass von Rechtsverordnungen oder Satzungen auf Regierung, Exekutive und Selbstverwaltungen übertragen kann. Die Rechtsprechung erhält ihre demokratische Legitimation durch die Ernennung der Richter durch den Justizminister, der bei der Beteiligung von Richterwahlausschüssen das Initiativrecht für die Anstellung (bzw. Beförderung) der Richter behält. In der rechtsprechenden Gewalt ist die Legitimationskette vom Staatsvolk zum Richter vergleichsweise die längste. Zur Begründung wird die richterliche Unabhängigkeit herangezogen, die nur durch die strikte Bindung des Richters an das Gesetz beschränkt wird (Art. 97 Abs. 1 GG). Weil das geschriebene (= positive) Recht nicht immer den Maßstäben der Gerechtigkeit (überpositives Recht) genügt, bindet Art. 20 Abs. 3 GG jede Staatsgewalt an „Gesetz und Recht“. Die Gerichte urteilen zwar „im Namen des Volkes“, sind aber nicht an einen Willen des Volkes gebunden. Eine besondere Rolle kommt den Verfassungsgerichten zu, die u. a. über die Verfassungsmäßigkeit von (Bundes- oder Landes-)Gesetzen entscheiden oder über Verfassungsbeschwerden von Bürgern, die sich durch die öffentliche Gewalt in ihren Grundrechten verletzt sehen.
Das Volk kommt in 12 der 16 Landesverfassungen ins Spiel, die eine Teilhabe ehrenamtlicher Richter an der Rechtsprechung „nach Maßgabe der Gesetze“ vorsehen. Deshalb regelt § 1 DRiG: „Die rechtsprechende Gewalt wird durch Berufsrichter und durch ehrenamtliche Richter ausgeübt.“ Allgemeine Vertreter des Volkes sind die Schöffen in der Strafgerichtsbarkeit bzw. die ehrenamtlichen Richter in der Verwaltungsgerichtsbarkeit. In den Fachgerichtsbarkeiten kommen ehrenamtliche Richter mit Sachkunde aus unterschiedlichen Bereichen zum Einsatz, wie etwa Arbeitgeber und Arbeitnehmer in der Arbeitsgerichtsbarkeit oder Versicherte in der Sozialgerichtsbarkeit, Landwirte in Landwirtschaftsgerichten und Kaufleute in den Kammern für Handelssachen. Der seit Jahrzehnten mit dem kontinuierlichen Rückgang der Mitwirkung ehrenamtlicher Richter verbundene Verlust an Volkssouveränität sollte die Verfassungsrechtler auf den Plan rufen.
Zitiervorschlag: Ursula Sens, „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ 75 Jahre Grundgesetz, in: LAIKOS Journal Online 2 (2024) Ausg. 2, S. 84.