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E. Hoven; T. Weigend (Hrsg.): Auf dem Weg zu rationaler und konsistenter Strafzumessung

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Unterschiedliche Strafen in (vermutet) vergleichbaren Fällen führen in Wissenschaft und Praxis wie in Medien und Öffentlichkeit wiederholt zu Überlegungen, wie man zu einer Gleichbehandlung dieser Fälle kommen könnte. Die Herausgeber kritisieren an der für die Strafzumessung zentralen Norm, dass sie keine klaren, in sich schlüssigen Maßstäbe für die Strafzumessung enthalte und für die Öffentlichkeit nicht nachvollziehbar sei. Der Ruf nach Strafzumessungsrichtlinien – analog den amerikanischen sentencing guidelines – ist ebenso häufig zu vernehmen wie nach Bildung regionaler oder gerichtlicher „Preistabellen“. Eine evidenz- und faktenbasierte Forschung über die richterliche Praxis ist daher von Bedeutung. Der Band gibt Inhalte des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekts „Gerechte Strafzumessung“ wieder, das von 2020 bis 2023 unter der Leitung von Elisa Hoven und Thomas Weigend an der Universität Leipzig durchgeführt wurde. Nach Darstellung des geltenden Rechts zur Strafzumessung werden Ergebnisse einer Vignetten-Studie mit Richtern und Laien vorgestellt. Zu diversen Fallkonstellationen trafen die befragten Richter und Laien Entscheidungen und begründeten, welche Kriterien für sie von Bedeutung sind. Der Studie zufolge neigen Laien im Schnitt zu längeren Freiheitsstrafen und in geringerem Umfang zur Aussetzung der Strafvollstreckung zur Bewährung. Anders war es nur in einem Fall von Wirtschaftskriminalität.

Die Ergebnisse beziehen sich auf den Querschnitt der Bevölkerung und sind wegen der unterschiedlichen Altersstruktur auf Schöffen nicht ohne Weiteres übertragbar. Die 1.067 Befragten waren zwischen 18 (!) und 69 Jahren alt. Im Projektfall zur Vergewaltigung war die höchste vorgeschlagene Freiheitsstrafe mit 240 Monaten jenseits des gesetzlich zulässigen Strafrahmens.
Mit Berufsrichtern wurden Gruppengespräche geführt, u. a. über die Rolle der gesetzlichen Mindeststrafe. Die Rechtspolitik erliegt zunehmend der Annahme, durch Erhöhung des Strafrahmens präventiv wirken zu können, etwa bei der wenig durchdachten Hochzonung der Kinderpornografie zum Verbrechen. In die Mühlen der Justiz gerieten danach nicht etwa Kinderporno-Ringe, sondern Eltern, die über ihre Kinder im Netz verbreitete Bilder an die Schule meldeten – also nach der Definition des Gesetzes „verbreiteten“. Die Autoren nennen dies – zu Recht – „Symbolpolitik“.

Aus der Praxis wurden Urteilsbegründungen zur Strafzumessung in den Gebieten Einbruchdiebstahl in private Wohnungen sowie sexuelle Übergriffe und Vergewaltigungen ausgewertet. Zum Zeitpunkt der Einbringung des Gesetzentwurfs über die Erhöhung des Strafrahmens beim Privatwohnungseinbruch waren die Zahlen stark rückläufig, was möglicherweise daran lag, dass Wohnungsinhaber mehr zur Sicherung der Wohnung gegen Einbruch getan haben. Die Gründe für die Gesetzesinitiative sind daher wohl eher in den durch mediale Berichterstattung geschürten Ängsten zu erblicken, was die Reform in die Kategorie der psychologischen, anstelle einer kriminologischen Prävention einordnet. Welche Auswirkungen die Erhöhung der Mindeststrafe von sechs auf zwölf Monate in § 244 Abs. 4 StGB bei einigen Berufsrichtern haben, wird durch ein Zitat zum Wohnungseinbruch deutlich (S. 187): „Also ich habe nach alter Rechtslage für einen Wohnungseinbruch etwa 15 Monate aufwärts verhängt und die neun Monate Abstand zur Mindeststrafe habe ich jetzt eingehalten. Deshalb für mich jetzt 1 Jahr und 9 Monate. Das war für mich der übliche Tarif.“

Einen zunehmend praktischen Wert hat die Untersuchung der Frage, welche Rolle ein langer zeitlicher Abstand zwischen Tat und Urteil für das Strafmaß spielt. Zeitablauf ist kein Kriterium des § 46 StGB. Gleichwohl erkennt die Rechtsprechung seine Berücksichtigung bei der Strafzumessung an. Hoven weist dem Strafzweck dabei eine große Rolle zu. Ist Resozialisierung das entscheidende Moment, verliert Strafe ihren Zweck, wenn in einer langen Zeit zwischen Tat und Urteil der Täter wieder „in die Spur“ gekommen ist, z. B. durch Therapie, Einsicht, Änderung der Lebensverhältnisse. Gleichwohl hat die Gesellschaft einen Anspruch darauf, dass das Fehlverhalten nicht sanktionslos hingenommen wird. Hier ist ein Ausgleich zu schaffen, der meist in einer geringeren Strafhöhe zu sehen ist, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt werden kann. Diese Abwägung zu treffen, ist weniger Juristerei, vielmehr Lebenserfahrung und Menschenkenntnis nach allen Seiten – Täter, Geschädigte, Gesellschaft.

Die Beiträge des Buches vermitteln Erkenntnisse über das zweite Betätigungsfeld der Schöffen – neben der Tatsachenfeststellung die Festsetzung der Sanktion. Die Debatte über Richtlinien zur Strafzumessung oder die Forderung nach Datenbanken zu Strafzumessungsentscheidungen, die auch den ehrenamtlichen Richtern zur Verfügung stehen, können in den Bereich der Hilfsmittel verwiesen werden. Diese können zur Unterstützung nützlich sein, sind aber für den Einzelfall nicht entscheidend. Richter – ob Berufs- oder ehrenamtliche –, die für Ware in derselben Verpackung unabhängig vom Inhalt immer denselben Preis ansetzen, sind mit einem Job an der Kasse im Supermarkt besser bedient. (hl)


Zitiervorschlag: Hasso Lieber, E. Hoven; T. Weigend (Hrsg.): Auf dem Weg zu rationaler und konsistenter Strafzumessung [Rezension], in: LAIKOS Journal Online 2 (2024) Ausg. 4, S. 172-173.

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