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R. Deckers; G. Köhnken; J. Lederer (Hrsg.): Die Erhebung und Bewertung von Zeugenaussagen im Strafprozess

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Ob ein Zeuge – häufigstes und zugleich unsicherstes Beweismittel im Strafverfahren – die Wahrheit sagt, irrt oder lügt, ist oftmals die zentrale Frage in der Beweisaufnahme. Mit der Geltung der freien Beweiswürdigung in der Strafprozessordnung wurde die Bühne frei für die Aussagepsychologie, die ihre Erkenntnisse aus der Wahrnehmungs-, Gedächtnis-, Entwicklungs- und Sozialpsychologie auf die Zeugenaussage anwendet. Der 2000 gegründete „Arbeitskreis Psychologie im Strafverfahren“ dokumentiert seine jährlichen Treffen und Diskussionen mit der vorliegenden Reihe zur Erhebung und Bewertung von Zeugenaussagen.

Im Zentrum von Band 6 stehen die Auswirkungen der Reform des § 177 StGB (sexuelle Nötigung) im Jahre 2016. Die Autoren analysieren die Vorschrift unter juristischen wie aussagepsychologischen Aspekten. Sie werfen z. B. die Frage auf, ob das Opfer einer sexuellen Zwangssituation seinen entgegenstehenden Willen gegen eine sexuelle Handlung erkennbar zeigen und gleichzeitig an sich selbst oder dem Täter solche Handlungen vornehmen kann (muss). Der BGH-Richter Ralf Eschelbach seziert die Norm, die in dem Bestreben der Erfassung möglichst vieler Handlungsvarianten in sich widersprüchlich sei. Er plädiert daher für eine Streichung des § 177 Abs. 2 Nr. 2 StGB, nach der „der Täter ausnutzt, dass die Person auf Grund ihres körperlichen oder psychischen Zustands in der Bildung oder Äußerung des Willens erheblich eingeschränkt ist“. Mit der (fehlenden) Widerstandsfähigkeit und ihrer Nachweisbarkeit befassen sich die Autoren aus der Psychologie (Pfundmair/Griesel). Die klassische Beweissituation ist die Aussage-gegen-Aussage-Konstellation. Die Aussagepsychologie hat Möglichkeiten entwickelt bzw. entdeckt, eine wahre von einer irrtümlichen oder falschen Aussage zu unterscheiden, erreicht aber auch schnell ihre Grenzen. Der Saarbrücker Staatsanwalt Reiter untersucht deshalb digitale Ermittlungsansätze wie Innenraum- und körperliche Überwachung, Bewegungsprofile usw. mit der – anspruchsvollen – Frage im Untertitel: „Nie mehr Aussage gegen Aussage?“ Die zentrale Frage ist stets, inwieweit die Daten zur Verfügung gestellt bzw. verwertet werden dürfen. Zumindest lassen sich bei divergierenden Aussagen ergänzende objektive Beweise verwerten. Die Abwägung „Persönlichkeitsschutz gegen Datenmissbrauch“ versus „Persönlichkeitsschutz gegen Gewalt“ muss immer wieder neu vorgenommen werden und entzieht sich einer dogmatischen Festlegung.

Band 7 befasst sich mit der Leistungsfähigkeit des Gedächtnisses, insbesondere nach kindlichen Missbrauchserfahrungen. Diese Fähigkeit muss Oeberst zufolge insbesondere in ihrer Selektivität analysiert werden. An ungewöhnliche oder sie selbst betreffende Ereignisse erinnern sich Menschen besser als an Vorgänge mit eher neutralen Inhalten. Daraus wird häufig abgeleitet, dass traumatische Erinnerungen auf Jahre verdrängt werden können, um später wieder in die Erinnerung zurückzukehren. Dieser These tritt die Autorin insoweit entgegen, als es für diese Schlussfolgerung keine wissenschaftlich gesicherte Basis gibt. In der Folge setzen sich die Autoren mit der Frage einer Alternative zur Aussagepsychologie auseinander, die möglicherweise in der Neurobiologie zu sehen sei. Hinterlässt eine sexuelle Gewalttat Spuren im Gehirn, im Körper oder der Psyche? Gamer/Pfundmair untersuchen die Frage anhand eines Falles, in dem die Erinnerung nach langjähriger Verdrängung im Rahmen einer Therapie wieder aktiviert worden sein soll. Kritisch wird auch der Gesetzgeber in den Blick genommen, der 2021 eine Norm ins StGB aufgenommen hat (§ 184l), mit der der Erwerb und Besitz von Sexpuppen mit kindlichem Erscheinungsbild unter Strafe gestellt werden. Die Legitimität wird von den Autoren der letzten beiden Beiträge infrage gestellt. Das BVerfG wird darauf die Antwort geben.

Die Bände zeichnen sich durch die besondere Form des Vorwortes aus. Deckers fasst die Beiträge zusammen, setzt sie zueinander in Beziehung und ergänzt sie mit Hinweisen auf Rechtsprechung und Literatur. Dies hilft nicht nur dem eiligen Leser, sondern vor allem demjenigen, der sich das Gelesene noch einmal in die Erinnerung rufen will. Zudem erleichtert es den Zugang zu einer auch für den ausgewiesenen Strafrechtler nicht immer einfachen Materie. (hl)


Zitiervorschlag: Hasso Lieber, R. Deckers; G. Köhnken; J. Lederer (Hrsg.): Die Erhebung und Bewertung von Zeugenaussagen im Strafprozess [Rezension], in: LAIKOS Journal Online 2 (2024) Ausg. 4, S. 171-172.

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