K. Altenhain; T. Bliesener; R. Volbert (Hrsg.): Fehler und Wiederaufnahme im Strafverfahren
Karsten Altenhain; Thomas Bliesener; Renate Volbert (Hrsg.): Fehler und Wiederaufnahme im Strafverfahren. Eine bundesweite empirische Studie anhand von Strafakten. Baden-Baden: Nomos-Verl.-Ges. 2024. 342 S. ISBN 978-3-7560-1581-8, € 109,00
Die Literatur über den Justizirrtum füllt Bibliotheken, meist über spektakuläre Fälle aus dem Bereich der Tötungsdelikte und langjährigen Haftstrafen, wenn nicht sogar in früheren Zeiten der Todesstrafe. Die Autoren der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Studie richten den Blick auf alltägliche Verfahren und stellen die These Eschelbachs, etwa 25 % aller Strafurteile seien fehlerhaft,1 auf eine belastbare Basis. Adressaten dieser Ergebnisse sind zum einen die eine Revision begründenden Anwälte, zum anderen die Richter zu ihrer Aufgabe der Feststellung richtiger Tatsachen bei der Beweisaufnahme – insoweit auch die Schöffen. 512 Wiederaufnahmeverfahren aus den Jahren 2013 bis 2015 (von insgesamt 5.082) wurden bundesweit ausgewertet, also Verfahren, die bereits rechtskräftig entschieden waren und aufgrund bestimmter neuer Tatsachen zugunsten (§ 359 StPO) oder zuungunsten (§ 362 StPO) der Verurteilten neu aufgerollt und verhandelt werden (sollen). Zwei Stationen durchläuft das Wiederaufnahmeverfahren: Zunächst muss es zulässig sein, woran 249 (= 48,6 %) der Anträge scheiterten. War diese Hürde überwunden, wurde in 229 der verbleibenden Verfahren die Wiederaufnahme angeordnet, wovon wiederum 219 letztendlich mit einer Änderung des ersten Urteils endeten. In 203 Verfahren hat das Revisionsgericht das Vorliegen eines Fehlers abschließend festgestellt. Hoch interessant – oder eher erschreckend – ist dabei die Feststellung, dass von diesen Fehlern 137 (also gut zwei Drittel) in einem Strafbefehlsverfahren verwirklicht wurden. Sehr zu Recht reden die Autoren in diesem Zusammenhang nicht in pseudo-wissenschaftlich beschönigendem Ton von einem „summarischen“, sondern von oberflächlichen Verfahren. Die einzelnen Bereiche der Fehler machen dies deutlich: Personenverwechselungen (in 20 !! Verfahren), Doppelbestrafung wegen derselben Tat (14-mal), Verkennung der Schuldunfähigkeit (63-mal). In 54 Strafbefehlsverfahren standen die Beschuldigten unter gesetzlicher Betreuung, waren nach Einschätzung der Autoren also überfordert, gegen den Strafbefehl rechtzeitig vorzugehen. Die Autoren verbinden den Vorwurf an die Verfahrensbeteiligten, voreilig vom Strafbefehlsverfahren Gebrauch gemacht zu haben, mit dem Hinweis auf die strukturelle Fehlerhaftigkeit des Verfahrens, weil sich in einer großen Zahl die Gerichte keinen persönlichen Eindruck verschafften. Vielfach seien Informationen, die zum Erfolg der Wiederaufnahme geführt haben, bereits im Ausgangsverfahren Bestandteil der Akte oder zumindest in sonstiger Weise den Ermittlungsbehörden bekannt gewesen. Der Rezensent teilt aus eigener Erfahrung die Verwunderung wie die Empörung, wenn Verurteilungen darauf beruhen, dass sich im Zeitalter vielgerühmter Künstlicher Intelligenz Angehörige derselben Behörde einander über das Verfahren betreffende Tatsachen nicht informieren. Man führe sich diese Fakten in der regelmäßig wiederkehrenden Debatte vor Augen, in der eine Erhöhung der mit Strafbefehl zulässigen Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren gefordert wird.2 Die Zahlen und Fakten, die die Autoren präsentieren, sind beunruhigend und festigen das Urteil: „Wenn Du arm bist, hast Du keine Chance.“ Die Untersuchung sei Rechtspolitikern wie Richtern (zum Strafbefehlsverfahren insbesondere den Amtsrichtern) dringend zur Lektüre an Herz, Hirn und Gewissen gelegt. Vielleicht lernt man von anderen Staaten und überlegt die Einführung eines echten (d. h. entscheidenden) Friedensrichters. (hl)
- Wolfgang Janisch, Ohne jeden Zweifel, Süddeutsche Zeitung vom 17.5.2015 [Abruf: 20.12.2024] ↩︎
- So noch der Vorstoß des rheinland-pfälzischen Justizministers Herbert Mertin (FDP) zur Justizministerkonferenz im Herbst 2022. ↩︎
Zitiervorschlag: Hasso Lieber, K. Altenhain; T. Bliesener; R. Volbert (Hrsg.): Fehler und Wiederaufnahme im Strafverfahren [Rezension], in: LAIKOS Journal Online 2 (2024) Ausg. 4, S. 170-171.