F. Klahr: Schuld und Strafmaß
Fabian Klahr: Schuld und Strafmaß. Modelle der Bestimmung rechtlicher Schuld im Strafrecht und die Methodik der Strafmaßfindung im Rahmen der Sanktionsentscheidung. Berlin: Duncker & Humblot 2022. 613 S. (Schriften zum Strafrecht; Bd. 395) Print-Ausg.: ISBN 978-3-428-18412-5, € 119,90; E-Book: € 119,90
Den Stoffreichtum dieser von der Universität Hannover 2020 angenommenen Dissertation im Rahmen einer Rezension auch nur ansatzweise erfassen zu wollen, ist ein hoffnungsloses Unterfangen. Es lohnt sich aber auch und gerade für den Nichtjuristen, der an der Feststellung strafbewehrten Verhaltens und der damit verbundenen Bemessung einer Strafe beteiligt ist, sich mit den Grundlagen ihres Zustandekommens zu befassen. Zudem fällt die Veröffentlichung in eine Zeit, in der die Diskussion über eine immer stärkere Bindung der Rechtsprechung an aktuelle Erscheinungen durch gesetzgeberische Vorgaben Konjunktur hat. Beispiel ist die 2021 vorgenommene Hochzonung schon eines einzigen Bildes mit kinderpornografischem Inhalt (§ 184b StGB) vom Vergehen zum Verbrechen; ein weiteres die ausufernde Vermehrung der die Strafhöhe beeinflussenden Regelbeispiele zu den „menschenverachtenden“ Beweggründen und Zielen des Täters in § 46 Abs. 2 StGB (rassistisch, fremdenfeindlich, antisemitisch, geschlechtsspezifisch, gegen die sexuelle Orientierung gerichtet).
Eine Vorschrift, die den verfassungsgleichen Grundsatz „nulla poena sine culpa“ (Keine Strafe ohne Schuld) im StGB umsetzt, bildet das Fundament für Art und Höhe der Strafe. § 46 Abs. 1 StGB regelt kurz und knapp: Die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe. Daraus folgen logischerweise zwei Fragen: Was ist „Schuld“? Mit welchem Werkzeug setze ich eine ermittelte Schuld in die nach Art und Höhe bestimmte Strafe um? Keine der Antworten stieß jemals auf einhellige Akzeptanz. Schuld hat von transzendentalen über psychologische und soziologische bis zu rechtswissenschaftlichen Elementen viele Deutungsmuster, um schließlich in der Alltagssprache anzukommen, in der dem Begriff allgemeine Verständlichkeit unterstellt wird („Er hat Schuld!“). Am Beginn des Werkes steht daher eine umfassende Darstellung der philosophisch-geschichtlichen Entwicklung des Schuldbegriffs, der naturgemäß immer auch die gesellschaftliche wie staatliche Deutungshoheit widerspiegelt.
Strafrechtlich hat die Feststellung von Schuld zunächst zur Voraussetzung, dass die inkriminierte Handlungsweise gesetzlich unter Strafe gestellt ist (nullum crimen sine lege = keine Straftat ohne Gesetz). Das Maß der Schuld bestimmt Art und Höhe der Strafe, die nicht übermäßig (unverhältnismäßig) sein darf. Ob sie umgekehrt nicht „unter“mäßig sein darf, wirft der Autor als Frage auf, die im Rahmen der Arbeit nicht vertieft wird. Gerade aufgrund der letzten Untersuchungen zur Verständigung im Strafverfahren (auch als Absprache oder Deal bezeichnet) von Altenhain/Jahn/Kinzig1 und bezüglich der Schöffen von Iberl/Kinzig2 drängt sich die Frage auf, ob die schuldangemessene Strafe in der Realität nicht dem Prinzip einer erledigungsangemessenen Strafe untergeordnet wird. Die vom Autor angerissene Frage macht die Notwendigkeit weiterer Untersuchungen deutlich.
Der Sinn der Strafe wird nach Zeit, Gesellschaft und Werteverständnis unterschiedlich definiert. Das Alte Testament lehrt die Talion – Auge um Auge –, die Sühne und Vergeltung ausdrückt; sie liegt auch noch der Kant‘schen Auffassung zugrunde, indem „jedermann widerfahre, was seine Taten wert sind“. Die Scharia enthält die sog. Spiegelstrafe, die z. B. an das Organ anknüpft, mit dem die Tat begangen wurde, indem die Hand des Diebes abgeschlagen wird. Moderne Strafzwecktheorien greifen den Präventionsgedanken auf, den allerdings schon Seneca (De ira) unter Berufung auf Plato formuliert hat: Kein kluger Mensch straft, weil gefehlt worden ist, sondern damit nicht gefehlt werde (Nemo prudens punit, quia peccatum est, sed ne peccetur). Notwendiger Bestandteil der Strafzumessung ist der Zweck, den die Strafe erfüllen soll. Auch dazu trifft § 46 Abs. 2 StGB in seinem Satz 2 eine Regelung: Die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind, sind zu berücksichtigen. Das vom Autor als Antinomie (unauflöslichem Widerspruch) bezeichnete Verhältnis zwischen Sühne/Vergeltung einerseits und Prävention/Resozialisierung andererseits hat das Bundesverfassungsgericht zusammengefasst (Vereinigungstheorie: kein „entweder/oder“, sondern „sowohl/als auch“). Der Strafzweck ist nicht ein-, sondern mehrdimensional; er ist nicht isoliert von der Strafzumessung zu betrachten, sondern ihr Bestandteil. Strafe hat immer das Ganze im Blick; Strafrecht ist ein Instrument der Gesellschaftssteuerung – als „Anarchieverhütungsprogramm“. Insoweit sind Schöffen zivilgesellschaftliches Werkzeug dieses Steuerungsprozesses. Sie sind nicht Vertreter einer (nicht existenten) „Meinung des Volkes“, sondern Teil eines Willensbildungsvorganges, der aus der rationalen Abwägung von Gründen besteht, die präventive wie repressive Momente zu individueller und kollektiver Wirksamkeit bringen.
Schuld steht in einem unlösbaren, aber komplexen Verhältnis zum begangenen Unrecht. Dessen Architektur wird von drei Säulen getragen: dem Unrechtsbewusstsein (§ 17 StGB), dessen Fehlen zu einem unvermeidbaren Verbotsirrtum führen kann, der Steuerungsfähigkeit (§ 20 StGB), die aufgrund seelischer Störungen fehlen kann, sowie der Unzumutbarkeit normgerechten Verhaltens bei der Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr durch eine rechtswidrige Tat (§ 35 StGB). Im dreistufigen Aufbau des Nachweises einer Straftat durch Tatbestand, Rechtwidrigkeit und Schuld kommt Letzterer die entscheidende selektive Funktion für die Strafe zu: Ohne Schuld keine Strafe. Wie in einem Trichter wird alles herausgefiltert, was der Feststellung der Schuld entgegensteht. Erst die Feststellung der Schuld eröffnet die Frage nach der (angemessenen) Strafe und der Technik der Strafzumessung.
Auf dieser Basis entwickelt der Autor im zweiten Teil des Werkes eine Dogmatik der Strafzumessung, die im Kern eine Zusammenstellung der Strafzumessungsfaktoren beinhaltet – von den (individuellen) Beweggründen und Zielen des Täters, der Tatausführung und dem Verhalten nach der Tat usw. über die Betroffenheit (z. B des Geschädigten) oder das Verhalten Dritter (z. B. des Gerichts bei der Verfahrensdauer) bis zu allgemeinen rechtsstaatlichen Kriterien wie dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Die Strafzumessung – als rational bestimmter Abwägungsprozess – beginnt mit der Feststellung des gesetzlichen Strafrahmens, der durch bestimmte Merkmale (besonders schwerer Fall, minder schwerer Fall) erweitert oder gemindert wird. Dieser Rahmen wird durch die o. g. Strafzumessungsfaktoren ausgefüllt.
Die so betriebene differenzierende Strafzumessung stellt Anforderungen an die Urteilsbegründung bei der Überprüfung in der Revision. Kern der Darstellung ist eine Typologie, die von Fehlern bei der Bestimmung des Strafrahmens über Verstöße gegen die Strafzumessungsgrundsätze (vor allem aufgrund sachfremder Erwägungen) bis zu Fehlern bei der Bildung einer Gesamtstrafe reicht. Angesichts der Beschränkung der Revision auf die reine rechtliche Überprüfung hängt die abschließende Bewertung, ob das Urteil auf diesem Fehler „beruht“, oft davon ab, inwieweit die Entscheidung dem Senat in ihrer Gesamtheit missfällt. Dies veranlasst den Autor zum Vorschlag an die Rechtspolitik, dem österreichischen Vorbild folgend eine eigenständige Strafmaßrevision einzuführen, die allein auf die Rechtsfolgen beschränkt ist, insoweit aber den Charakter einer vollen Tatsacheninstanz hat.
Die rechtspolitische Bedeutung der Dissertation wird in der abschließenden Betrachtung auf der Meta-Ebene besonders deutlich. Das Schuldrecht befinde sich in einer veritablen Krise, fasst der Autor zusammen. Seiner Skepsis legt er zunächst die Schlussfolgerungen aus der Hirnforschung zugrunde. Diese richte das Hauptaugenmerk bei der Beurteilung der Schuld auf ihr normatives Herzstück (§ 20 StGB, Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen), woraus er die Forderung nach einer autarken forensischen Psychiatrie ableitet. Damit wird der Blick auf (notwendige) Fortsetzungen der Diskussion geöffnet. Die hohe Attraktivität der Verständigung im Hinblick auf die Strafzumessung verdunkele die Prinzipien, die zu ihrer Entscheidung führen. Vor einer damit verbundenen Verengung der Strafzumessung auf ein reines Taxenstrafrecht (wie bei den anglo-amerikanischen Sentencing Guidelines) wird gewarnt. Die Nutzung des Begriffs „Algorithmus“ in diesem Zusammenhang weist auf den Einsatz Künstlicher Intelligenz, die in der Legal-Tech-Debatte den zukünftigen Robot-Richter an die Wand malt. Die Vielschichtigkeit der Faktoren, die der Strafzumessung zugrunde liegen, und ihre höchst diverse subjektive Anwendung machen die Gefahr einer solchen Rechtsprechung nach Auffassung des Autors eher unwahrscheinlich. Schon die von viel höherer Abstraktion geprägte Rechtsetzung scheitere beim Versuch einer Standardisierung, wie in jüngster Zeit die Korrekturen am Tagessatzsystem der Geldstrafe deutlich zeigen. Insofern darf die Dissertation als Meilenstein des Strafzumessungsrechts betrachtet werden. (hl)
Zitiervorschlag: Hasso Lieber, F. Klahr: Schuld und Strafmaß [Rezension], in: LAIKOS Journal Online 2 (2024) Ausg. 2, S. 90-91.