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M.-T. Hess: Digitale Technologien und freie Beweiswürdigung

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Die gerichtliche Entscheidung beruht auf Tatsachen, die durch die Würdigung von Beweismitteln auf ihren Aussage- und Wahrheitsgehalt festgestellt werden, bevor das Gericht rechtliche Schlussfolgerungen treffen kann. Die Dissertation über die Frage, inwieweit digitale Technologie das Gericht dabei unterstützen kann, gewährt einen Blick in die Zukunft richterlicher Tätigkeit, womit – und dies wird rechtspolitisch ein wichtiger Punkt sein – nicht nur die berufsrichterliche gemeint sein kann. Zu Recht macht die Arbeit insoweit keine Unterschiede. Das Kollegialprinzip wird als „vorgelagerte Kontrollmöglichkeit der Entscheidungsfindung“ bezeichnet. Deshalb gilt nicht nur für die Berufsrichter, sich mit dem kommenden Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI), Internet of things (IoT) oder Virtual Reality (VR) zu befassen. KI wird auch die Anforderungen an die Schöffen verändern.

Die Autorin legt im ersten Teil der Arbeit zunächst die „analogen“ Grundsätze der Beweiswürdigung dar, die sich naturgemäß auch unter digitalen Bedingungen nicht verändern werden. Allerdings kann sich der mittelbare Einfluss des Ermittlungsverfahrens, das den Rahmen für die Hauptverhandlung setzt, deutlich verstärken, weil KI dort bereits zum Einsatz kommt und einen noch größeren Einfluss haben wird als der traditionelle Akteninhalt, der in seiner „Ausstrahlungskraft“ als vertraut gelten kann. Da die juristische Ausbildung traditionell im Bereich strafrichterlichen Handwerks wie Kriminalistik oder Vernehmungstechnik Defizite aufweist, wird sich durch KI ein weiteres Feld auftun, auf dem Fortbildung erforderlich ist. Die Hoffnung, dass KI menschliche Lücken bei den Regeln der Logik oder Erfahrungssätzen beheben könnte, wird sich in dieser Schlichtheit nicht erfüllen – eher wird das Gegenteil der Fall sein. Schon die Abgrenzung zwischen schwacher KI (bewegt sich optimierend im vorgegebenen Aufgabenbereich) und starker KI (besitzt über den Aufgabenbereich hinaus Einsatz- und Entwicklungsmöglichkeiten, mit denen sie mit dem Menschen konkurrieren kann) wird – insbesondere bei mangelnder Transparenz – Probleme bereiten. Zudem kann die Technik nicht nur unterstützend wirken, sondern ihrerseits wiederum Mittel der Kriminalität sein. Es gibt eine Ubiquität digitaler Technologie als Tatort, Tatmittel und Tatobjekt.

Das eröffnet den Blick auf die praktischen Einsatzmöglichkeiten. Die IT-Forensik befasst sich mit der Sicherung und Auswertung digitaler Systeme zur Erfassung von Spuren in Dateien, Smartphones, Kraftfahrzeugen usw. In der klassischen Kriminaltechnik kann KI unterstützend wirken durch Visualisierung von Vorgängen in 3D per VR oder bei der Aufklärung von DNA-Mischspuren. In der täglichen Arbeit entwickeln sich daraus Einsatzmöglichkeiten, z. B. die virtuelle Darstellung des Tatortes zur Tatrekonstruktion oder von Bewegungen; zudem hilft KI beim Auffinden von Querverbindungen, die schneller und zuverlässiger entdeckt und aufgearbeitet werden können. Schon bei der Begehung von Straftaten können digitale Systeme Sachverhalte speichern, wie etwa Sprach- oder Fahrassistenz-Systeme. Auch bei der Bewertung des festgestellten Sachverhaltes werden digitale Unterstützungen angeboten, z. B. mit Smart Sentencing bei der Strafzumessung. Analog werden diese Techniken als Sentencing Guidelines (Strafzumessungsrichtlinien) in den USA seit langem genutzt. Aber gerade dieses Beispiel macht die Unverzichtbarkeit menschlicher Letztentscheidung deutlich. Vor der bahnbrechenden Entscheidung des BGH zu den sog. Haustyrannenfällen1 hätte jede KI auf lebenslange Freiheitsstrafe erkannt; menschliche Empathie hat andere Wege gewiesen. Eine alte Debatte wird im Bereich der Aussageanalyse durch KI aufgegriffen: der Polygraph, umgangssprachlich Lügendetektor, dessen Einsatz der BGH mangels wissenschaftlicher Validität ablehnt. Auf der Grundlage von der Aussagepsychologie entwickelter inhaltsbezogener Aussagemerkmale, sog. Realkennzeichen (Detailreichtum, strukturierte Darstellung, logische Konsistenz), werden KI-gestützte Aussageanalysen wieder ins Gespräch gebracht, die von der Autorin ausgiebig – mit positiver Tendenz – behandelt werden. Technisch weniger aufwendig wird ein Indizienbewertungssystem eingeschätzt, das als Werkzeug unter der Kontrolle der Richter mit mathematischen Wahrscheinlichkeitsregeln arbeitet. Die dargestellten Modelle sollen die richterliche Entscheidungsfindung unterstützen, nicht ersetzen. Sie sind unmittelbare Hilfsmittel und werden nicht durch Gutachten von Sachverständigen eingeführt.

Im Bereich der Beweiswürdigung werden KI-(Legal-Tech-)Anwendungen für möglich gehalten, weil sie Vorteile für eine rationale und nachvollziehbare Überzeugungsbildung des Gerichts bieten. Die Urteilsbildung bleibt aber für den Richter „frei“. Eine Gefahr spricht die Autorin dabei an. Unter dem Druck der an die Technik wie an den Richter gestellten Anforderungen könnten die tatgerichtlichen Urteile künftig noch länger werden. Wachsende Herausforderungen und Unsicherheiten würden dazu führen, sich durch ausufernde Urteilsgründe abzusichern. Die große Herausforderung wird in der Qualifizierung der Handelnden liegen – auch der ehrenamtlichen. Einer Debatte um weitere Einschränkungen ihres Einsatzes ist daher schon jetzt entgegenzutreten. Dass die Debatte kommt, ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Insofern hat die Dissertation neben dem wissenschaftlich-aufklärenden Effekt auch eine warnende Funktion. (hl)


Zitiervorschlag: Hasso Lieber, M.-T. Hess: Digitale Technologien und freie Beweiswürdigung [Rezension], in: LAIKOS Journal Online 2 (2024) Ausg. 2, S. 89-90.

  1. BGH, Urteil vom 25.3.2003, Az.: 1 StR 483/02, erläutert bei Lieber/Sens, Fit fürs Schöffenamt, 3. Aufl., 2024, S. 144.[]

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