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O. Eberl; P. Erbentraut (Hrsg.): Volkssouveränität und Staatlichkeit

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In schlichter Größe formuliert Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG das moderne Verständnis vom Wesen des Staates: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“ – …doch man hat nie gehört, dass sie jemals dahin zurückgekehrt ist.“ Die Ergänzung stammt von Kurt Tucholsky, die von der Journalistin und Bürgerrechtlerin Daniela Dahn in dem Essay „Wir sind der Staat!“ 2013 aufgegriffen wurde. In der Einleitung zum vorliegenden Buch ergänzt Heidrun Abromeit den Grundgesetzartikel mit der Frage, wohin sie dann wohl geht?

Das Herz des demokratischen Staates ist die Volkssouveränität. Diese Kraft wird nicht zufällig in kritischen Zeiten von der Zivilgesellschaft beschworen. Ob „Wir sind das Volk“ in der DDR-Bürgerbewegung oder „El Pueblo unido, jamás será vencido“ (Das vereinte Volk wird niemals besiegt werden) nach dem Sturz der Allende-Regierung in Chile 1973 – das Stakkato dieser Parolen verlangt die Rückgabe der politischen Handlungsmacht an das Volk. Aber die Begrifflichkeiten sind fließend geworden. Der Begriff des Volkes ist schon lange kein ethnischer mehr, sondern beschreibt das Staatsvolk, die Inhaber der Staatsbürgerschaft, unabhängig davon, ob diese durch Geburt, Heirat oder Zuwanderung erworben wurde. Souveränität bezieht sich zudem nach klassischem Verständnis auf die Herrschaft über ein bestimmtes Gebiet, in der Neuzeit den Nationalstaat. Angesichts der zahlreichen supranationalen Verbindungen im staatlichen Bereich und der Globalisierung (in Politik, Wirtschaft wie Gesellschaft) drohen diese Begriffe inhaltsleer zu werden. Die Ausgangsthese dieses Sammelbandes ist deshalb, dass in der supranationalen Demokratie die Volkssouveränität an inhaltlicher Konkretheit verliert und als normative Grundlage der Demokratie „gerettet“ werden muss. Die Justiz ist ein allfälliges Beispiel für diese These. Die Notwendigkeit einer Harmonisierung rechtlicher Standards durch europäische Rechtsprechung zur Funktionsfähigkeit der EU ist unbestritten, die Distanz der Zivilgesellschaft zu den europäischen Gerichten und ihrer Rechtsprechung aber unübersehbar.

Dieses Auseinanderklaffen des wenig ausgeprägten Mitwirkens des Individuums (Mikroebene) zum dominanten staatlichen Handeln (Makroebene) analysieren Herausgeber und Autoren historisch wie aktuell in zwei Komplexen. Der erste Komplex betrachtet intermediäre (vermittelnde) Organisationen wie Parteien und Verfassungsgerichte (Verfassungsbewahrer und/oder Verfassungsgestalter) als moderne Institutionen demokratischer Selbstgesetzgebung. Die historischen Beiträge von Comtesse (zu Rousseau) und Jörke (zu den sog. Federalist Papers der entstehenden USA des 18. Jahrhunderts) verdeutlichen unter historischen Aspekten die Verdrängung radikal-demokratischer Konzeptionen. In der amerikanischen Diskussion wird dem reinen Repräsentationsmodell der Federalists ein Modell gegenübergestellt, das eine höhere Identität der Repräsentanten mit den Repräsentierten garantieren soll. Mittel dazu sollen häufigere (jährliche) Wahlen sowie Rotation und Rückruf (recall) der Gewählten und Maßnahmen (instractions) durch die Repräsentierten sein. In diesem Zusammenhang taucht einer der wenigen Hinweise auf die Auswirkungen durch Teilhabe an der Rechtsprechung auf, wonach sich gerade die Anti-Federalists für die Beibehaltung der Laiengerichte aussprachen.

Der zweite Komplex widmet sich den Räumen (Gebieten), innerhalb derer Volkssouveränität praktiziert wird bzw. werden kann. Je größer die Räume, umso geringer der unmittelbare Einfluss der Repräsentierten auf die politischen Entscheidungen, so lautet das Dogma nicht nur derer, die auf eine möglichst große Unabhängigkeit der Repräsentanten dringen, sondern auch derer, die ökonomische Grundsätze an die Ausübung von Staatsgewalt legen. Dies trifft (in dem Sammelband nur indirekt angesprochen) auf jeden Fall auf die Entwicklung der Beteiligung der Zivilgesellschaft an der Rechtsprechung zu. Längere Amtszeiten, Erweiterung der Zuständigkeit von Einzelrichtern, intransparente Wahlvorgänge usw. führen zu schwindenden Einflüssen der Vertreter der Zivilgesellschaft. Unter den von den Autoren entwickelten Grundsätzen sollte insbesondere die Justiz kritisch unter die Lupe genommen werden. Insofern kommt das Buch bei mir auf ständige Wiedervorlage. (hl)


Zitiervorschlag: Hasso Lieber, O. Eberl; P. Erbentraut (Hrsg.): Volkssouveränität und Staatlichkeit [Rezension], in: LAIKOS Journal Online 2 (2024) Ausg. 1, S. 52-53.

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