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N. Graichen: Die Automatisierung der Justiz

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Nikolas Graichen: Die Automatisierung der Justiz. Untersuchungen zur Verfassungsmäßigkeit der Anwendung von Legal Tech in der Rechtsprechung. Baden-Baden: Nomos 2022. 379 S. (Recht und Digitalisierung; Bd. 7) Print-Ausg.: ISBN 978-3-8487-7429-6, € 109,00; E-Book: € 109,00

Kann Künstliche Intelligenz (KI) den Juristen in seiner Arbeit unterstützen oder gar auf Dauer ganz ersetzen? Wenn ja: Inwieweit ist eine solche Delegation von juristischer Arbeit auf eine Maschine mit unserem Menschenbild, unserem Verständnis von Recht, unserer Staatsorganisation, kurz mit unserer Verfassung und ihren Werten vereinbar? Dazu stellt der Autor systematisch zunächst die Frage nach dem „Warum“ Künstlicher Intelligenz. Was versprechen wir uns von ihr? An erster Stelle das, was objektiv von digitaler Technik geleistet werden kann: Beschleunigung, Fehlerfreiheit, Vereinfachung, besserer Zugang zum Rechtsschutz sowie Objektivität und Transparenz der Entscheidungsfindung. KI fühlt nicht, tut das, auf was man sie programmiert, ist in der Geschwindigkeit von Suchen und Finden um ein Vieltausendfaches schneller als das menschliche Gehirn und steht inzwischen (fast) jedem zur Verfügung. Angesichts der objektiven Daten aus der Justiz, die sich in steigender Bearbeitungszeit niederschlagen, selbst wenn die Fallzahlen sinken, der Fehleranfälligkeit von Urteilen (die Richter am BGH Eschelbach mit 25 % aller Strafurteile ansetzt)1 oder des mit KI einfacheren Zugangs zum Gericht und damit zum Recht, sind die Vorzüge der KI für Bürger, die mit Gerichten zu tun haben, verlockend. Was diese Systeme bisher zu leisten in der Lage sind, zeigt der historische Abriss zur Rechtsinformatik, die auf ein dreiviertel Jahrhundert zurückblicken kann, auch wenn das Modewort „Legal Tech“ eine kürzere Zeit vorspiegelt.

Einen zentralen Punkt stellt der Autor immer wieder auf den Prüfstand: die juristische Sprache. Diese verwendet – notwendig – unbestimmte Rechtsbegriffe, die einer Übertragung in die mathematisch verfasste Maschinensprache unzugänglich sei (so der amerikanische Jurist Lee Loevinger schon 1949). Die Monografie zitiert eine Reihe von Zeugen aus Rechtswissenschaft, Philosophie und Technik, die diesen zentralen Punkt beleuchten. Binärcodes – so fasst der Autor zusammen – können menschliches Verhalten zwar berechnen und nachahmen, den Sinn der Wörter aber nicht verstehen. Auch scheinbar eindeutige Rechtsstreitigkeiten seien von Auslegungen und Wertungen durchdrungen; Rechtsanwendung sei immer auch Interpretation und verstehende Deutung. Beispiele dazu sind in den verschiedenen Rechtsbereichen Legion: Was versteht der Verfassungsrechtler unter der „angemessenen Entschädigung“ eines Abgeordneten? Wann ist eine Handlung „verwerflich“ im Sinne einer strafbaren Nötigung? Selbst scheinbar eindeutige Begriffe wie „Gewalt“ sind durch Interpretation von der rein körperlichen auf die psychische Gewalt ausgedehnt worden – im Zuge von richterlicher Rechtsfortbildung, zu der eine Maschine nicht in der Lage ist.

Zur Beweisführung entwirft der Autor ein Richterbild, das er an der Wichtigkeit der Empathie in der Rechtsprechung misst. „Richter gab es, bevor es Gesetze gab“, so der französische Rechtsphilosoph Jean-Étienne-Marie Portalis. Sie werden schon auf der Stele des Hammurapi im 18. Jahrhundert v. Z. erwähnt. Der nicht beteiligte, unabhängige Dritte entscheidet einen Streit. Das allein macht die Maschine ungeeignet zum Richter, da sie (anders als der unabhängige Richter demokratischer Neuzeit) von ihrem Programm und den darin enthaltenen Weisungen abhängig ist. Die Vorstellung Montesquieus, der den Richter auf den „Mund des Gesetzes“ reduzierte, der nur aussprach, was das Gesetz befahl, ist im modernen Rechtsstaat überwunden. Nicht umsonst verlangt das Deutsche Richtergesetz vom Richter „soziale Kompetenz“; die fachliche Kompetenz – als selbstverständlich vorausgesetzt – reicht allein nicht aus. Empathie und Fairness sind von einem digitalen Programm – möge man es auch als „lernend“ bezeichnen – nicht zu erwarten, als richterliche Eigenschaften aber unverzichtbar.

Der Vergleich der Eigenschaften und Leistungen von KI mit den Anforderungen an den menschlichen Richter mündet in die verfassungsrechtliche Frage, bis zu welchem Punkt die Software in der richterlichen Entscheidungsfindung Einsatz finden kann und wo die Grenzen liegen. Maßstab sind zum einen die (prozessualen) Justizgrundsätze: der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG), auf ein begründetes und in Entscheidungsfindung und Ergebnis transparentes Urteil (so das BVerfG im sog. Elfes-Urteil, BVerfGE 6, S. 32, 44), auf einen unabhängigen Richter (Art. 97 Abs. 1 GG), das Recht auf ein faires Verfahren (Art. 6 EMRK) und den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG). Materiell-rechtlich werden als Prüfungsmaßstab die Achtung der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG), das Gerechtigkeitsgebot, auf das alle Richter vereidigt werden, sowie das Diskriminierungsverbot herangezogen. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass KI einen Platz zur Erleichterung und Beschleunigung richterlicher Arbeit einnehmen kann, die letzte Verantwortung aber beim Richter bleibt, weil dieser nicht standardisierbare Kriterien wie „gerecht“, „verständlich“, „angemessen“ usw. anwendet, die für die Entscheidung essenziell sind, der KI aber nicht zur Verfügung stehen. Das rechtliche Gehör beinhaltet neben „Hören“ die Pflicht zum Verstehen und Abwägen. Die Begründung muss die abwegigste Einlassung berücksichtigen und ggf. widerlegen; sie muss, wenn nicht akzeptiert, so doch verständlich sein. Empathie, das Gefühl für das Außergewöhnliche, das nicht der Norm Entsprechende, fehlt der Software. Als Beispiel wird die sog. „Haustyrannen“-Entscheidung des BGH herangezogen: Die Tötung des schlafenden Ehemannes durch seine Frau erfüllte das Mordmerkmal der Heimtücke. Aufgrund der jahrelangen Demütigungen und Misshandlungen durch den Mann sah das Gericht von der nach dem Gesetz einzigen, nämlich lebenslangen Freiheitsstrafe ab und verhängte eine zeitige Strafe. Dieses Urteil hätte von einer programmierten Maschine so nicht gefällt werden können. Diese Einwände dienen dem Verfasser nicht zur Ablehnung von KI in der Rechtsprechung, sondern zu einer Positionsbestimmung. Natürlich ist es von Vorteil, in kürzester Zeit alle Hinweise zu einer Rechtsfrage aus Gesetz und Rechtsprechung auf dem Tisch zu haben, zudem in einem logischen System aufbereitet. Auslegung, Interpretation, Anwendung im Einzelfall auf die Beteiligten in besonderen Situationen, das Einbringen sozialer Kompetenz in die Bewertung von Menschen und Maßnahmen sind und bleiben das Refugium des (im wahrsten Sinne des Wortes) menschlichen Richters.

Die Monografie gibt Anlass zu weiterer Nachdenklichkeit. Vergleicht man ihren hohen Anspruch an das Richterbild mit der Realität von juristischer Ausbildung und Examina, den Einstellungskriterien und der alltäglichen Arbeit des Richters drängt sich die Feststellung auf, dass allzu viele Ähnlichkeiten mit dem „technischen Kollegen“ bestehen. Bei der Einstellung ist das Kriterium der sozialen Kompetenz kaum prüfbar und geht im reinen Notenkriterium unter. In der Zeit als Proberichter zählt auch eher die Erledigungszahl als das ungewöhnliche, aber einzelfallgerechte Urteil. Die Rechtspolitik tut ein Übriges mit der zunehmenden Ökonomisierung der Justiz, bei der die Digitalisierung allzu leicht den Trend zur Online-Verhandlung und zum Einzelrichter verstärkt, wodurch die Partizipation der Zivilgesellschaft weiter verdrängt wird. Dabei ist das Gegenteil erforderlich. Die KI mit ihrem Anschein, alle Entscheidungen schneller und richtiger treffen zu können, verlangt nach interner Kontrolle gegen eine Tendenz, die technische Unterstützung zur inhaltlichen Entscheidung zu machen. Der Einsatz von KI in der Rechtsprechung (und der mit ihr verbundenen Berufe) verlangt nach reformierter juristischer Ausbildung, Anpassung der Einstellungskriterien von Berufsrichtern und einer richterlichen Praxis, in der die Zivilgesellschaft ihren Verfassungsauftrag, dass „alle Staatsgewalt vom Volke“ ausgeht, wahrnehmen kann. Insoweit ist die KI sowohl Chance wie Gefahr. Die Verantwortung für die Maßnahmen liegt bei der Rechtspolitik. Der Verfasser hätte für seine ausgiebige und exzellente Analyse die Möglichkeit einer Fortsetzung. (hl)

Zitiervorschlag: Hasso Lieber, N. Graichen: Die Automatisierung der Justiz [Rezension], in: LAIKOS Journal Online 1 (2023) Ausg. 2, S. 88-89.

  1. Janisch, Ohne jeden Zweifel, SZ vom 17.5.2015 [Abruf: 1.10.2023].[]

Über die Autoren

  • Hasso Lieber

    Geschäftsführender Gesellschafter PariJus gGmbH, Rechtsanwalt, Staatssekretär a. D., Generalsekretär European Network of Associations of Lay Judges, 1993–2017 Vorsitzender Bundesverband ehrenamtlicher Richterinnen und Richter e. V., 1989–2022, Heft 1 Redaktionsleitung „Richter ohne Robe“

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