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BGH: Zeitpunkt des Eintritts einer Ergänzungsschöffin

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  1. Bei der Entscheidung über die Heranziehung eines Ergänzungsschöffen sind verschiedene, ggf. widerstreitende Gesichtspunkte abzuwägen, etwa die Garantie des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) gegen den Beschleunigungsgrundsatz (Art. 6 Abs. 1 Satz 1, Art. 5 Abs. 3 EMRK) und die Konzentrationsmaxime (§§ 228, 229 StPO).
  2. Die Regelung für die Hemmung der Unterbrechungsfrist bei Erkrankung eines Schöffen (§ 229 Abs. 3 Satz 1 StPO) gebietet im Hinblick auf das Prinzip des gesetzlichen Richters, die Feststellung seiner Verhinderung zurückzustellen und abzuwarten, ob die Hauptverhandlung unter Mitwirkung des Erkrankten fristgerecht fortgesetzt werden kann.
  3. Bereits vor Ablauf der Hemmungsfrist kann über die Verhinderung des Schöffen und den Eintritt eines Ergänzungsschöffen entschieden werden, wenn das Gebot besonderer Beschleunigung in U-Haft-Sachen als vorrangige Prozessmaxime beeinträchtigt wäre. (Leitsätze d. Red.)

BGH, Beschluss vom 7.3.2023 – 3 StR 397/22

Sachverhalt: Die vom LG u. a. wegen Raubes verurteilten Angeklagten machen mit der Besetzungsrüge geltend, die Vorsitzende habe zu Unrecht die Verhinderung einer ursprünglich zur Entscheidung berufenen Schöffin festgestellt.

Die Hauptverhandlung fand vom 3.6. bis 10.9.2021 bereits an 15 Verhandlungstagen statt. Am 16.9. teilte der Ehemann der Schöffin mit, dass sie als Notfall in eine Klinik gekommen sei. Der Termin am 16.9. wurde aufgehoben. Die Vorsitzende verfügte am 21.9., dass anstelle der Schöffin, die aus gesundheitlichen Gründen verhindert sei, die Ergänzungsschöffin eintrete. Eine AUB und ein Attest wiesen aus, dass die Schöffin zum dritten Mal wegen dieser Symptome notfallmäßig behandelt, eine Ursache bislang nicht festgestellt worden sei. Sie sei mindestens bis zum 1.10. an einer Teilnahme an der Hauptverhandlung gehindert, sodass vier Verhandlungstermine mit mehr als 20 Zeugen betroffen seien. Es sei nicht sicher, ob die Schöffin an den Folgeterminen teilnehmen könne. Da sich vier Angeklagte in Haft befänden und noch eine Vielzahl von Verhandlungstagen zu erwarten sei, sei die Verhandlung mit der Ergänzungsschöffin fortzusetzen.

Rechtliche Würdigung: a) Ein Ergänzungsschöffe tritt in das Gericht ein, wenn ein amtierender Schöffe an der weiteren Mitwirkung verhindert ist (§ 192 Abs. 2 und 3 GVG). Die Verhinderung stellt der Vorsitzende nach seinem Ermessen fest. Er kann die Hauptverhandlung unterbrechen und abwarten, ob sie später mit dem vorübergehend verhinderten Schöffen fortgeführt oder sofort unter Mitwirkung des Ergänzungsschöffen fortgesetzt werden kann.

b) Bei der Entscheidung sind verschiedene, ggf. widerstreitende Punkte zu berücksichtigen, insbesondere wenn ein Schöffe während der Hauptverhandlung erkrankt und nicht zum Fortsetzungstermin erscheinen kann. Einerseits gebietet das Prinzip des gesetzlichen Richters, die Hauptverhandlung zu unterbrechen und abzuwarten, ob sie fristgemäß mit dem erkrankten Schöffen fortgesetzt werden kann. Es soll derjenige an der Urteilsfindung mitwirken, der nach allgemeinen Regeln von vornherein dafür zuständig war. Die Beschleunigungs- und Konzentrationsmaxime kann aber erforderlich machen, die Verhinderung möglichst bald festzustellen, um die Verhandlung ohne Zeitverzug fortzusetzen.

c) Die Grundsätze sind durch die Hemmungsregel des § 229 Abs. 3 Satz 1 StPO eingeschränkt. Danach ist mit Blick auf den gesetzlichen Richter geboten abzuwarten, ob die Verhandlung mit dem erkrankten Schöffen fortgesetzt werden kann. Solange die Fristen gehemmt sind, ist für eine Ermessensentscheidung kein Raum; der Eintritt des Ergänzungsschöffen kommt erst in Betracht, wenn der erkrankte Schöffe nach Ablauf der maximalen Fristenhemmung zum ersten notwendigen Fortsetzungstermin nicht erscheinen kann. Anderes kann ausnahmsweise gelten, wenn feststeht, dass eine Fortsetzung mit dem erkrankten Schöffen auch nach Ablauf der maximalen Fristenhemmung nicht möglich sein wird, oder wenn andere vorrangige Prozessmaximen beeinträchtigt würden.

d) Vorliegend durfte die Vorsitzende bereits vor Ablauf der Hemmungsfrist über die Verhinderung der Schöffin und den Eintritt der Ergänzungsschöffin entscheiden, da sonst das Gebot besonderer Beschleunigung in Untersuchungshaftsachen – eine vorrangige Prozessmaxime – beeinträchtigt worden wäre. Zwei Angeklagte befanden sich seit Dezember 2020 in U-Haft, vier Termine mit über 20 Zeugen bis zum 1.10.2021 drohten auszufallen und zahlreiche Verhandlungstermine standen noch an, sodass dem Beschleunigungsgebot vorrangige Bedeutung zukommt. Eine dauerhafte Teilnahme der gesundheitlich angeschlagenen Schöffin war zudem nicht sicher.

Anmerkung: Der Gesetzgeber misst dem Prinzip des gesetzlichen Richters große Bedeutung zu, wonach sich der für eine Sache zuständige Spruchkörper im Voraus eindeutig aus allgemeinen Regeln ergeben muss – bei Berufsrichtern durch den Geschäftsverteilungsplan, bei Schöffen durch Auslosung auf die Verhandlungstermine bzw. in die Reihenfolge der Ersatzschöffenliste. Die Zusammensetzung darf nur unter gesetzlich bestimmten Voraussetzungen geändert werden. Eine dieser Änderungen ist der Einsatz von Ergänzungsschöffen, die von Beginn an der Hauptverhandlung (in zweiter Reihe) teilnehmen müssen. Deren Einsatz ist wiederum an strenge Regeln gebunden. Der Hauptschöffe muss an der weiteren Teilnahme „verhindert“ sein. Verhindert ist ein Schöffe, wenn er dauerhaft (z. B. bei Ausschluss wegen der Besorgnis einer Befangenheit) oder für längere Zeit, als eine Hauptverhandlung unterbrochen werden darf, an dieser nicht teilnehmen kann. Eine Verhandlung darf höchstens für drei Wochen oder – wenn sie bereits an mehr als zehn Tagen stattgefunden hat – für einen Monat unterbrochen werden. Beruht die Verhinderung auf einer Erkrankung, ist die Unterbrechungsfrist erst einmal bis zu zwei Monaten gehemmt und dauert nach Ablauf noch mindestens 10 Tage. Diese Zeit muss der Vorsitzende abwarten, bevor er die Verhinderung feststellt. Ausnahmsweise kann er sie früher feststellen, wenn sicher ist, dass (wie vorliegend) mit der gesundheitlichen Wiederherstellung nach Ablauf von Hemmungs- und Unterbrechungsfrist nicht zu rechnen ist. Dies ist aber wiederum nur zulässig, wenn ein anderes Prinzip vorrangig ist. Die U-Haft eines Angeklagten mahnt zur beschleunigt durchzuführenden Verhandlung. Deshalb war der Eintritt der Ergänzungsschöffin nicht nur vertretbar, sondern geboten. (hl)

Link zum Volltext der Entscheidung


Zitiervorschlag: BGH: Zeitpunkt des Eintritts einer Ergänzungsschöffin, in: LAIKOS Journal Online 1 (2023) Ausg. 2, S. 74-75.

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