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BGH: Anforderungen an das Selbstleseverfahren

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Zweck des Selbstleseverfahrens ist nicht, ohne vorherige Bewertung der Bedeutung für die Beweisführung große Teile der Akten in die Hauptverhandlung einzuführen und so zur potenziellen Grundlage des Urteils zu machen. Die im Wege des Selbstleseverfahrens in die Beweiserhebung einzuführenden Urkunden sind sorgfältig zusammenzustellen und bereits zum Zeitpunkt der Anordnung des Selbstleseverfahrens auf ihre (mögliche) Erheblichkeit wie ihre Lesbarkeit bzw. Verlesbarkeit zu prüfen. (Leitsatz d. Red.)

BGH, Beschluss vom 8.2.2022 – 5 StR 243/21

Sachverhalt: Der Vorsitzende ordnete im Verfahren wegen mehrerer Insolvenzdelikte am 3.7.2019 ein Selbstleseverfahren im Umfang von ca. 9.000 Seiten an, bei denen es sich um einen Großteil der gesamten Fallakten einschließlich der Angaben von Zeugen und Beschuldigten handelte. Die Anordnung wurde wie folgt konkretisiert: „Soweit (…) Urkunden aufgeführt sind, die in fremder Sprache abgefasst sind, sind nur die mit Namen, Zahlen und Einzelbuchstaben dargestellten und nicht sprachspezifischen Angaben Gegenstand des Selbstleseverfahrens. Schriftliche Erklärungen im Sinne des § 250 StPO sind insoweit Gegenstand der Selbstleseanordnung, als dies durch § 256 Abs. 1 Nr. 1, 5 StPO gestattet wird oder als es sich um einfache Auskünfte von Mitarbeitern über den Inhalt von Buchungs- und Abrechnungsunterlagen oder vergleichbare Unterlagen handelt. Soweit Vermerke über Befragungen oder Angaben Dritter (z. B. in Durchsuchungs- oder sonstigen Ermittlungsberichten) in Urkunden enthalten sind, sind diese nicht Gegenstand der Selbstlesung.“ Am 8.1.2020 – also ein halbes Jahr später – erklärten alle Mitglieder der Strafkammer, „vom Inhalt aller in (den) Urkundenlisten genannten Urkunden durch Lesen Kenntnis genommen“ zu haben. Die Angeklagten rügen mit der Revision die Verletzung des § 249 Abs. 2 StPO. Der BGH erachtet die Verfahrensrüge für begründet.

Rechtliche Würdigung: Mit der Bezeichnung der Urkunden sollen die Verfahrensbeteiligten erkennen können, welcher außerhalb der Hauptverhandlung gewonnene Beweisstoff der Überzeugungsbildung des Gerichts zugrunde gelegt werden kann. Dieser Anforderung hält die Selbstleseanordnung nicht stand. Die abstrakte Einschränkung des Selbstleseumfangs durch rechtliche („durch § 256 Abs. 1 Nr. 1, 5 StPO gestattet“) und tatsächliche Kriterien („nicht sprachspezifischen Angaben“) konnte die zum Beweis eingeführten Urkunden(teile) nicht eindeutig identifizieren und individualisieren. Es handelte sich nicht um eine – zulässige – zusammenfassende und pauschale Benennung der zu verlesenden Schriftstücke; vielmehr war den Mitgliedern des Spruchkörpers einschließlich der Schöffen wie den Verfahrensbeteiligten für die Ermittlung des Umfangs der Selbstlesung eine eigene rechtliche Einordnung unter die Verlesungsvorschriften der StPO überantwortet. Ein solches Vorgehen war fehlerhaft, weil das Ergebnis der Einordnung unklar blieb. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Mitglieder des Gerichts Urkunden(teile) in unterschiedlichem Umfang zum Gegenstand der Selbstlesung und damit zur Urteilsgrundlage gemacht haben. Insbesondere konnten bei den Verfahrensbeteiligten Zweifel über Gegenstand und Umfang der Beweisverwendung entstehen, sodass die Selbstleseanordnung ihre Wirkung verfehlt hat. Aus der Anordnung des Selbstleseverfahrens, die den gesamten Inhalt der übergebenen Akten umfasste, konnte nicht geschlossen werden, dass Berufsrichter und Schöffen zum Abschluss des Selbstleseverfahrens ohne Einschränkung erklärt haben, den Wortlaut aller aufgeführten Urkunden zur Kenntnis genommen zu haben. Die Feststellung zum Abschluss des Selbstleseverfahrens muss dem Inhalt seiner Anordnung entsprechen.

Anmerkung: Die Begründung lässt über die mangelnde Präzision der beweiserheblichen Dokumente hinaus Zweifel erkennen, ob alle Mitglieder des Gerichts die 9.000 Blatt bzw. die beweiserheblichen Teile davon tatsächlich und vollständig gelesen haben. Das gilt insbesondere für die Schöffen. Die Versicherung, die gesamten zur Verfügung gestellten Akten vollständig gelesen zu haben, ist mehr als bewundernswert. Zwischen dem 3. Juli und dem 8. Januar des Folgejahres liegen 188 Tage. Das bedeutet, dass die Schöffen, die – anders als Berufsrichter, Staatsanwalt und Verteidiger – zuvor keine Aktenkenntnis hatten, in dieser Zeit täglich – werktags, an Wochenenden und Feiertagen – etwa 48 Seiten gelesen haben mussten. Mit dem bloßen Lesen war es aber nicht getan. Bei jedem Blatt war angesichts der unspezifischen Konkretisierung im Anordnungsbeschluss zu überlegen, ob – und wie weit – der jeweilige Inhalt für die Beweisführung erheblich war und in welcher Weise das Gelesene für eine bestimmte angeklagte Tat be- oder entlastend zu werten sei. Ein Indiz für den tatsächlichen Leseumfang wäre, wie viele Stunden die Schöffen als Entschädigung für den Zeitaufwand geltend gemacht haben. Bei nur durchschnittlich 3 Min./Blatt ergeben sich 450 Stunden. Hat die Anweisungsstelle jedem Schöffen über 3.000 € erstattet? Zudem muss man – die Berufstätigkeit der Schöffen unterstellt – die Einsatzbereitschaft loben, nach einem vollständigen Arbeitstag noch dieselbe gedankliche Leistung zu vollbringen, die Berufsjuristen in ihrer Arbeitszeit erledigen konnten. Die Zweifel des BGH sind nachvollziehbar. Interessant wäre eine Erklärung der Schöffen, wie sie diese Inanspruchnahme außerhalb der Hauptverhandlung bewältigt haben. (hl)

Link zum Volltext der Entscheidung


Zitiervorschlag: BGH: Anforderungen an das Selbstleseverfahren, in: LAIKOS Journal Online 1 (2023) Ausg. 2, S. 72-73.

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