Literaturumschau
Goldmann, Jonas; Zähringer, Ulrike: Die Umstände von Gewicht bei der Feststellung der besonderen Schwere der Schuld. Eine Analyse von Mordurteilen im Zeitraum 2000–2020.
In: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 106 (2023), H. 2, S. 100-114
1981 wurde mit § 57a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB die „besondere Schwere der Schuld“ eingeführt, um besonders schwerwiegende Tötungsdelikte individuell bestrafen zu können – Leitgedanke war dabei: „Mord ist nicht gleich Mord.“ Die Feststellung der besonderen Schwere der Schuld im Urteil kann die Aussetzung des Strafrestes bei lebenslanger Freiheitsstrafe zur Bewährung nach Ablauf der Mindestverbüßungsdauer von 15 Jahren verhindern. Kritik gab es in der Folge an der fehlenden Bestimmtheit und Konkretisierung der Kriterien für die Feststellung der besonderen Schuldschwere durch die Tatgerichte. Der Große Senat des BGH forderte in einem Beschluss vom 22.11.1994 „Umstände von Gewicht“. Welche Umstände so gewichtig sein können, wurde von den Autoren anhand von 26 landgerichtlichen Urteilen aus den Jahren 2000 bis 2020 untersucht. Die Ergebnisse werden im empirischen Teil des Beitrags systematisch dargestellt. Zunächst wurde ein Schema mit vier Kategorien gebildet: Ergebnisdarstellung des Gerichts, Bemessungsgrundlage des Gerichts, schulderschwerende Faktoren und schuldmindernde Faktoren. Die schulderschwerende Kategorie wurde auf der Grundlage der Strafzumessungskriterien (§ 46 Abs. 2 Satz 2 StGB) nochmals untergliedert: Gesinnung, Beweggründe und Ziele der Tat, Vorleben und Vor-/Nachtatverhalten, Auswirkungen der Tat. Dabei wurde festgestellt, welche tat- und täterbezogenen Faktoren nachteilig für die Schuldschwere herangezogen wurden. Die Umstände, die die besondere Schwere der Schuld begründen können, seien vielfältig. Einige gewichtige Umstände, die regelmäßig in den untersuchten Entscheidungen vorkamen, werden aber herausgearbeitet, wie Mehrfachtaten (hohe kriminelle Energie), brutale und qualvolle Tatbegehung (wenn die Tat über das notwendige Maß hinausging), Mehrzahl an Opfern (mehr als zwei Todesopfer), Verwirklichung mehrerer Mordmerkmale. Bei der Persönlichkeit des Täters spielen auch Umstände, die das Tatopfer betreffen, eine zentrale Rolle wie gezielte Auswahl hilfloser Opfer (vor allem mit einhergehendem Vertrauens- und Machtmissbrauch). Die Einstellung des Täters zur Tat in Verbindung mit dem Nachtatverhalten (gleichgültige, gefühllose Haltung, schnelle Rückkehr zum Alltag) finden ebenso Berücksichtigung wie das Vorliegen von mehr als einer Vorstrafe (insbesondere bei Steigerung der Schwere der Taten). In keinem Urteil begründete nur ein gewichtiger Umstand die besondere Schuldschwere; es kam immer auf eine Kumulation mit weiteren gewichtigen – auch tat- und täterbezogenen – Umständen an. Die Schuldschwere sei immer im Einzelfall zu bewerten, einen Schematismus gebe es nicht. Eine gesetzliche Konkretisierung der „Umstände von Gewicht“ in § 57a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB sei zwar schwierig; klare Vorgaben zur Feststellung der Schuldschwere seien aber für eine einheitliche Anwendungspraxis notwendig.
Jahn, Matthias; Wenglarczyk, Fynn: Organisierte Klimaproteste und Strafverfassungsrecht.
In: Juristenzeitung 78 (2023), H. 20, S. 885-895
Der zivile Ungehorsam der Klimaaktivisten der „Letzten Generation“ (LG) beschäftigt derzeit auch die Gerichte. Der Autor vergleicht die Klimaproteste mit den Sitzblockaden anlässlich der atomaren Nachrüstung in den 1980er-Jahren und nimmt dafür den Rechtsbegriff „Ziviler Ungehorsam“ und rechtliche Konsequenzen neuer Protestformen der LG in den Blick. Der zivile Klimaschutzungehorsam aufgrund des als pflichtwidrig empfundenen Unterlassens staatlicher Klimaschutzpolitik betreffe in gleicher Weise die Beziehungen zwischen Bürger und Staat. Allerdings habe der „Zivile Ungehorsam“ als Rechtsbegriff für die juristische Praxis zu wenig Konturen, um ihn handhabbar zu machen. Gegen die strafrechtliche Würdigung von Klebeaktionen, z. B. auf Autobahnen, kann er als Rechtfertigungsgrund nicht ins Feld geführt werden. Andererseits verlangen die Ermittlungen gegen die LG als „Kriminelle Vereinigung“ und die damit verbundenen Grundrechtseingriffe (etwa die Beschlagnahme ihrer Webseite) die besondere Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes.
Jung, Heike: Condorcet und die Todesstrafe.
In: Juristenzeitung 78 (2023), H. 20, S. 895-901
Während der französischen Aufklärung setzte die Diskussion um die Abschaffung der Todesstrafe ein. Der Autor würdigt die Rolle des Wissenschaftlers und Politikers Condorcet (1743–1794) in seinem Engagement gegen die Todesstrafe und für ein humanes Strafrecht. Seine Ablehnung begründete er mit der Unmöglichkeit einer Fehlerkorrektur nach Vollstreckung der Todesstrafe, die auch nicht im Interesse einer Generalprävention in Kauf genommen werden könne. Fehlurteile seien nie ganz auszuschließen. Man dürfe keine Entscheidung treffen, die irreparabel sei. Insbesondere im Prozess gegen Ludwig XVI. hat er sich entschieden gegen die Todesstrafe gestellt. Aber erst 1981 wurde auf Initiative des damaligen Justizministers Robert Badinter, Mitautor einer Biografie über Condorcet, die Todesstrafe in Frankreich abgeschafft. Wir seien – so der Autor – von einer weltweiten Ächtung der Todesstrafe noch weit entfernt. Die meisten Staaten der USA hielten an der Todesstrafe fest, ebenso China, Iran, Saudi-Arabien und Ägypten.
Langer, Stefan: Der Rechtsweg zu den Wehrdienstgerichten nach der Wehrbeschwerdeordnung.
In: Deutsches Verwaltungsblatt 138 (2023), H. 13, S. 787-793
Für das Beschwerdeverfahren von Soldaten nach der Wehrbeschwerdeordnung (WBO) ist nach Abschluss des exekutiven (vorgerichtlichen) Verfahrens der Rechtsweg zu den Wehrdienst- oder Verwaltungsgerichten eröffnet. Soweit für bestimmte Klagen (z. B. statusrechtliche Angelegenheiten) nach dem Soldatengesetz (SG) nicht der Verwaltungsrechtsweg vorgegeben ist, treten Wehrdienstgerichte an seine Stelle. Der Autor erläutert die Struktur der WBO sowie das Zusammenspiel mit der Wehrdisziplinarordnung (WDO); bei Lücken kommen vor allem die Vorschriften der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) zur Anwendung. Das Spektrum der Rechtsstreitigkeiten umfasst alle Maßnahmen der Gestaltung des militärischen Dienstbetriebs, die unter dem Begriff „truppendienstliche Verwendungsentscheidungen“ subsumiert werden könnten, und reichen von Personalmaßnahmen wie Urlaub, dienstlichen Beurteilungen oder Duldungspflicht für Covid-19-Impfungen bis zu Konkurrentenstreitigkeiten um höherbewertete Dienstposten. Wehrdienstgerichte sind die beiden Truppendienstgerichte (Nord und Süd) als erste Instanz sowie das Bundesverwaltungsgericht mit zwei Wehrdienstsenaten als Beschwerde- und Rechtsmittelinstanz. In den Spruchkörpern wirken jeweils zwei Soldaten als ehrenamtliche Richter mit, wobei einer als „Kameradenbeisitzer“ der Dienstgradgruppe des beschwerdeführenden Soldaten angehören muss; der andere ehrenamtliche Richter muss Stabsoffizier sein oder im Dienstgrad über dem beschwerdeführenden Soldaten stehen und soll der Teilstreitkraft (Heer, Luftwaffe, Marine) des Beschwerdeführers angehören. Die ehrenamtlichen Richter vermitteln – so der Autor – den Berufsrichtern Einblicke in die Berufswelt der Soldaten und die Erfordernisse des militärischen Dienstes, aber auch in neuere Entwicklungen und Befindlichkeiten der Truppe und damit über zu erwartende Konflikte.
Metz, Jochen: Die Anklageschrift in der Praxis.
In: Juristische Rundschau 2023, H. 11, S. 538-545
Der Autor befasst sich detailliert mit den Anforderungen an die Anklageschrift und ihre Bestandteile „Anklagesatz“ und „wesentliches Ergebnis der Ermittlungen“, die hinsichtlich des zu verhandelnden Stoffs eine Umgrenzungs- und Informationsfunktion zu erfüllen hätten. Für Schöffen und die Öffentlichkeit, denen das wesentliche Ergebnis der Ermittlungen nicht mitgeteilt wird, habe der Anklagesatz eine Informationsfunktion. Aus ihm müssen sich die Person des Angeschuldigten, Tatort, -zeit und -ausführung, die gesetzlichen Merkmale der Straftat sowie die anzuwendenden Strafvorschriften präzise entnehmen und identifizieren lassen. Der konkrete Sachverhalt des zur Last gelegten Geschehens muss unverwechselbar und in Alltagssprache beschrieben werden. Der Anklagesatz ist wortgetreu zu verlesen; das Selbstleseverfahren ist unzulässig. Bei der Verlesung ist auf Übersichtlichkeit, Verständlichkeit, Genauigkeit und Kürze zu achten. Das wesentliche Ergebnis der Ermittlungen enthält die Begründung der im Anklagesatz erhobenen Vorwürfe, aufgrund welcher Umstände die Staatsanwaltschaft einen hinreichenden Tatverdacht annimmt, die Begründung der Rechtsfolgen sowie die Beweismittel, mit denen die Tat nachgewiesen werden kann. Besonderheiten bei der Abfassung und Verlesung des Anklagesatzes gebe es z. B. bei Serientaten, d. h. einer Vielzahl gleichartiger Taten, und Sexualdelikten. Abschließend werden Mängel der Anklage und ihre Folgen behandelt.
Payandeh, Mehrdad: Verbot der Altersdiskriminierung im Grundgesetz?
In: Zeitschrift für Rechtspolitik 56 (2023), H. 2, S. 59-62
Der Beitrag widmet sich der Forderung, ein Verbot der Altersdiskriminierung im Grundgesetz zu verankern. Dazu müssten im Wege der Verfassungsänderung die Kategorien Geschlecht, Abstammung, Rasse, Sprache, Heimat und Herkunft, Glauben, religiöse oder politische Anschauungen und Behinderung in Art. 3 Abs. 3 GG um das Alter bzw. Lebensalter ergänzt werden. Der Autor bezweifelt, dass sich die neue Kategorie ohne Wertungswidersprüche in den bestehenden Kanon der Diskriminierungsverbote, die auf den Schutz von Minderheiten oder generell unterrepräsentierten Personengruppen zielten, eingliedern lasse. Da alle Menschen altern würden – nur zu unterschiedlichen Zeitpunkten – lasse sich eine strukturelle Benachteiligung in gesellschaftlichen oder politischen Prozessen kaum nachweisen. Hinter den Altersgrenzen würden oft ökonomische Gründe oder Erwägungen der intergenerationellen oder Verteilungsgerechtigkeit stehen, z. B. Arbeitsplätze für die jüngere Generation. Daher könnten Altersgrenzen sachlich berechtigt und legitim sein. Mindestaltersgrenzen könnten an die Einsichtsfähigkeit oder den Erfahrungshorizont anknüpfen, Höchstaltersgrenzen an die Leistungsfähigkeit älterer Menschen. Auch aus den unionsrechtlichen Diskriminierungsverboten könne keine Ergänzung des Art. 3 Abs. 3 GG geschlossen werden. Der EuGH erkenne in ständiger Rechtsprechung altersdifferenzierende Regelungen in den Mitgliedstaaten an.