Literaturumschau
Feser, Andreas: Gerichts-TV – Ein Beitrag für mehr Gerechtigkeit?
In: Neue Justiz 77 (2023), H. 2, S. 45-50
Anlässlich der Liveübertragung eines Prozesses im US-Bundesstaat Virginia, bei dem sich die Ex-Eheleute Johnny Depp und Amber Heard eine „Schlammschlacht“ – so die Medienberichte – lieferten, geht der Autor der Frage nach, ob die deutschen Regelungen zur Öffentlichkeit in Gerichtsverhandlungen erweitert werden sollten, um mehr Fernsehaufnahmen aus Gerichtssälen zuzulassen, oder ob dadurch eine sachgerechte Aufklärung von Sachverhalten beeinträchtigt werden könnte. Die Öffentlichkeit von Gerichtsverfahren gehöre zu den rechtsstaatlichen Grundsätzen und schaffe Transparenz, Vertrauen und Akzeptanz in die Rechtsordnung. Sie bedeute freien Zugang zu Verhandlungen und ermögliche die öffentliche Berichterstattung über Verfahren (§ 169 GVG). Zwar hätten sich die Rahmenbedingungen zur Öffentlichkeit in Gerichtsverfahren verändert, da die Medien ein großes Interesse an Fernsehübertragungen hätten. Dennoch habe der Schutz der ungestörten gerichtlichen Wahrheitsfindung Vorrang, insbesondere im Strafverfahren. Die Medienöffentlichkeit belaste das allgemeine Persönlichkeitsrecht aller Verfahrensbeteiligten; vor allem würde die unbefangene und unbeeinflusste Zeugenaussage als wichtige Erkenntnisquelle geschmälert. Psychologische Forschungen bestätigten den negativen Einfluss der Fernsehkameras bei der Vernehmung von Zeugen. Das Bewusstsein, unter Beobachtung zu stehen, könne sich unterschiedlich auf das Aussageverhalten auswirken und richte sich nach der (eigenen) Betroffenheit des Zeugen vom Gegenstand des Prozesses. Der Beitrag gibt auch einen Überblick über die Regelungen für Bild- und Tonaufnahmen aus Gerichtsverfahren im Ausland.
Gerson, Oliver Harry: „Die Hölle, das sind die anderen“ – Strafe durch Verfahren?
In: wistra 42 (2023), H. 2, S. 56-65
Ob bereits die Durchführung des Strafverfahrens wie eine Strafe wirken kann, inwieweit dies mit dem Verfahrenszweck zu vereinbaren ist und welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind, untersucht der Autor insbesondere auch für Wirtschaftsstrafverfahren. Die Durchführung eines Strafverfahrens entfalte für den Betroffenen und sein nahes Umfeld in der Regel eine stigmatisierende Wirkung, insbesondere wenn es sich – wie in Wirtschaftsstrafverfahren nicht unüblich – um angesehene Persönlichkeiten handele; im schlimmsten Fall könne die Durchführung des Strafverfahrens sogar zur Vernichtung einer Existenz führen. Vorwiegend würden diese „strafenden Nebenwirkungen“ durch verfahrensfremde Akteure wie die Medien verursacht. Die strafende Wirkung des Verfahrens könne bei Vorliegen der Voraussetzungen durch Einstellung des Verfahrens (§§ 153 ff. StPO), Absehen von Strafe (§ 60 StGB), Verwarnung mit Strafvorbehalt (§ 59 StGB) oder die strafmildernde Berücksichtigung der Folgen der Tat (§ 46 StGB) teilweise verhindert oder kompensiert werden. Vor- und Nachteile bei der Anwendung der entsprechenden Vorschriften werden dahingehend geprüft, ob sie zulässig sind und ob sie als „prozessuale Auswege“ tauglich sind. Trotz aller Bemühungen sei „Strafe durch Verfahren“ nicht zu vermeiden. Ob eine Verurteilung oder ein Freispruch erfolge, ein Makel bleibe immer haften.
Gran, Andreas: Rechtsbildung als Allgemeinbildung. Fundament für freies und soziales Wirtschaftsleben.
In: Juristische Rundschau 2023, H. 6, S. 257-263
Mehr Kenntnisse der Bevölkerung über das Recht als Teil der Allgemeinbildung, um sich im Rechtsleben zurechtzufinden, würden privatautonomes Handeln in der sozialen Marktwirtschaft fördern. Eine empirische Studie, in der juristische Laien zu den Grundlagen von Rechtsgeschäften wie Vertragsschluss, Widerruf, Allgemeine Geschäftsbedingungen befragt wurden, hat erhebliche Wissenslücken offenbart. Dabei geht es dem Autor um die Vermittlung von praxistauglichen Wertvorstellungen und die Handlungsfähigkeit von Bürgern in unserer Rechtsordnung, ihre Lebensverhältnisse selbstbestimmt zu gestalten. Dies fördere die Eigenverantwortung der Verbraucher und schütze effektiv vor riskanten Entscheidungen. Um das Recht in der Gesellschaft breiter zu verankern, müsse im schulische Rechtskundeunterricht, in der Hochschule und in der Jugendarbeit angesetzt werden. Rechtliche Allgemeinbildung stärke Akzeptanz und Vertrauen in den demokratischen Rechtsstaat und trage zum Verständnis anderer Rechtskulturen bei. Aufgrund der Globalisierung sollten internationale Abkommen und EU-Recht auch Bestandteil der rechtlichen Bildung sein. Zur Vermittlung von Rechtskompetenz eigneten sich insbesondere die Rechtsanwälte.
Husemann, Tim; Kern, Uli: Zwischen Wort und Tat: das Bürgergeld-Gesetz.
In: Die Sozialgerichtsbarkeit 70 (2023), H. 5, S. 277-281
Das am 1.1.2023 in Kraft getretene Bürgergeld-Gesetz hat den Begriff „Hartz IV“ beseitigt; weitere Änderungen befinden sich noch im Gesetzgebungsverfahren. In dem Beitrag werden neue Regelungen und Begriffe kritisch beleuchtet, z. B. heißen die „Sanktionen“ nunmehr „Leistungsminderungen“; die „Eingliederungsvereinbarung“ wird als „Kooperationsplan“ bezeichnet. Die Vorschriften zum Einkommen und Vermögen dienten der Besitzstandswahrung, insbesondere von Selbstständigen bei der Geldanlage (Fonds, Aktien) zur Altersvorsorge. Bei selbstgenutzten Hausgrundstücken sei nur die Wohnfläche – nicht der Immobilienwert – maßgeblich für den Bezug von Bürgergeld. Erbschaften seien kein zu berücksichtigendes Einkommen mehr. Anhand von Beispielsrechnungen wird verdeutlicht, dass vermögende Bezieher von Bürgergeld besser gestellt sind als Erwerbstätige. Zudem seien durch die Änderungen Wertungswidersprüche entstanden. Die Umbenennung von Begriffen gingen nicht mit einer inhaltlichen Änderung einher. Das Gesetz sei eher eine Weiterentwicklung als eine grundlegende Reform. Die Chance für eine wirkliche Reform sei nicht genutzt worden.
Ostendorf, Heribert: 100 Jahre Jugendstrafrecht in Deutschland – Entwicklungen und Perspektiven.
In: Recht der Jugend und des Bildungswesens 70 (2022), H. 4, S. 570-576
Das 100-jährige Bestehen eines eigenständigen Jugendstrafrechts im Jahr 2023 nimmt der Autor zum Anlass, einen Überblick über die Entstehung in der Weimarer Republik, die Entwicklung im Nationalsozialismus bis zum Jugendgerichtsgesetz (JGG) in der Bundesrepublik zu geben. Vorher gab es drei Vorschriften zur Reaktion auf Straftaten Jugendlicher. Für das damals von Reichsjustizminister Gustav Radbruch als fortschrittlich bezeichnete Gesetz gab der Strafrechtsreformer Franz von Liszt den Anstoß. Wichtig waren die Strafbarkeitsgrenze von 14 Jahren sowie die Einführung von Erziehungsmaßregeln, der Jugendgerichtshilfe und Diversion. Im Nationalsozialismus wurden Reformen zurückgenommen und die Repression verstärkt, indem die Strafbarkeitsgrenze auf 12 Jahre gesenkt und Zuchtmittel wie Jugendarrest eingeführt wurden. Von der NS-Ideologie befreit, wurden im JGG von 1953 die Zuchtmittel beibehalten, ebenso die „schädlichen Neigungen“ als Grund für eine Jugendstrafe. Die Strafbarkeitsgrenze wurde wieder auf 14 Jahre angehoben. Die Jugendstrafe konnte nunmehr zur Bewährung ausgesetzt werden, unterstützt durch die Bewährungshilfe. Neu war die Einbeziehung der Heranwachsenden im Alter zwischen 18 und 21 Jahren. Im Laufe der Zeit kamen weitere Änderungen hinzu wie ambulante Maßnahmen (z. B. Täter-Opfer-Ausgleich, sozialer Trainingskurs) oder in neuerer Zeit die nachträgliche Sicherungsverwahrung, der „Warnschussarrest“, eine klare Definition der Ziele des Jugendstrafrechts, weitere Straftaten zu verhindern, sowie Verfahrensgarantien für Jugendliche, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind. Insgesamt habe sich das geltende Jugendstrafrecht aufgrund der flexiblen Verfahrensgestaltung sowie der Möglichkeit, auf Straftaten Jugendlicher mit individuellen Sanktionen reagieren zu können, bewährt.
Otte, Stefanie: Die Gerichte werden sich grundlegend ändern.
In: Deutsche Richterzeitung 101 (2023), H. 7/8, S. 260-263
Die Autorin beruft sich auf eine Studie zur Digitalisierung der Justiz, die den deutschen Gerichten einen Rückstand von 10 bis 15 Jahren auf führende Länder wie Singapur, Kanada, Großbritannien oder Österreich attestiert. Die rückläufigen Eingangszahlen der Gerichte in Zivilsachen ließen befürchten, dass immer mehr Bereiche des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens ihre Probleme durch alternative Streitlösungsformen – ohne Hilfe der Justiz – regeln. Einen Grund sieht sie in der unzulänglichen Digitalisierung der Justiz. Die elektronische Akte sei noch keine „echte“ Digitalisierung der gerichtlichen Arbeit. Wichtig seien der Einsatz algorithmischer Systeme oder von Künstlicher Intelligenz zur Bearbeitung von Massenverfahren. Die Modernisierung der Ziviljustiz werde derzeit in verschiedenen Projekten erprobt, wie ein Portal, in dem alle Verfahrensbeteiligte online auf relevante Informationen zu ihrem Fall Zugriff haben, oder ein zivilgerichtliches Online-Verfahren für gleichgelagerte Fälle mit einer Streitwertgrenze von 5.000 Euro. Bei der Digitalisierung der Justiz sei die Politik gefordert, finanzielle Mittel bereitzustellen.
Rath, Christian: Braucht es Commercial Courts?
In: Deutsche Richterzeitung 101 (2023), H. 7/8, S. 254-255
Vor dem Hintergrund, dass größere Prozesse zwischen Unternehmen fast nur noch vor privaten Schiedsgerichten stattfinden und nicht an staatlichen Gerichten, habe die Bundesregierung einen Referentenentwurf (für ein Gesetz zur Stärkung des Justizstandortes Deutschland durch Einführung von Commercial Courts und der Gerichtssprache Englisch in der Zivilgerichtsbarkeit) vorgelegt, um die Attraktivität von Commercial Courts zu steigern und künftig in Verträgen ihre Zuständigkeit zu vereinbaren. Den Ländern werde ein großes Gestaltungsrecht eingeräumt, Commercial Chambers an Landgerichten und Commercial Courts an den Oberlandesgerichten einzurichten. Eine Umfrage der Deutschen Richterzeitung habe gezeigt, dass bislang nur fünf westdeutsche Länder eine klare Absicht geäußert hätten, wobei der Autor bedenkt, dass es in anderen EU-Staaten wie Frankreich und den Niederlanden nur jeweils ein englischsprachiges Gericht für internationale Handelssachen gebe und das Bundesministerium der Justiz von nur 25 Verfahren vor Commercial Courts bundesweit ausgehe. Hervorragend ausgestattet seien die Commercial Courts in Baden-Württemberg mit einem Commercial Court am Landgericht Mannheim (wenige Fälle aufgrund der Streitwertgrenze von 2 Mio. Euro) und dem Commercial Court in Stuttgart, der „Professionalität und Exklusivität“ ausstrahle (überwiegend ohne exklusive Streitwertgrenzen) und zahlreiche Eingänge und Erledigungen zu verzeichnen habe.
Anmerkung der Redaktion: Inzwischen liegt ein Gesetzentwurf der Bundesregierung vor (BR-Drucksache 374/23 vom 18.8.2023, Permalink zum Gesetzgebungsvorgang).