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Vor 175 Jahren – Die Frankfurter Nationalversammlung 1848/49

Von Ursula Sens, PariJus gGmbH

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Abstract
Das Ergebnis der März-Revolution von 1848 war die sog. Paulskirchenverfassung, die erste deutsche Verfassung mit einem umfassenden Katalog an bürgerlichen Grundrechten und Prozessgrundrechten. Zur Neuordnung der Justiz mit rechtsstaatlichen Grundsätzen gehörte auch die Beteiligung von Bürgern an der Rechtsprechung.

The result of the March Revolution of 1848 was the so-called Paulskirchenverfassung, the first German constitution with a comprehensive catalogue of basic civil rights and basic procedural rights. The reorganisation of the judiciary with principles of the rule of law also included the participation of citizens in jurisdiction.

I. Die März-Revolution 1948

Im Frühjahr 1848 erfasste eine Welle revolutionärer Bewegungen die Staaten des Deutschen Bundes und auch große Teile Europas. Diese Konflikte zeichneten sich seit der Neuordnung Europas und der deutschen Staaten auf dem Wiener Kongress 1814/15 ab. Die Wiederherstellung der „alten Ordnung“ – der Fürstenherrschaft – stieß auf große Ablehnung. Das liberale Bürgertum strebte vor allem durch eine Verfassung und gewählte Parlamente eine Beschränkung obrigkeitlicher Macht an. In einigen Staaten wurden Verfassungen geschaffen, die eine konstitutionelle Monarchie vorsahen, z. B. Baden (1818), Bayern (1818), Württemberg (1819). Im Königreich Hannover protestierten 1837 die „Göttinger Sieben“ – darunter die Brüder Jakob und Wilhelm Grimm – gegen die Aufhebung der 1833 eingeführten liberalen Verfassung und wurden daraufhin als Professoren der Universität Göttingen durch König Ernst August I. entlassen. Dieser Widerstand erregte öffentliches Aufsehen und stärkte die liberale Bewegung. Insbesondere die beiden Großmächte Österreich und Preußen verweigerten sich einer politischen Entwicklung.

Revolutionäres Potenzial ging auch von den notleidenden Unterschichten in den Städten und auf dem Land aus, da Armut und Arbeitslosigkeit durch die Wirtschaftskrisen rapide zugenommen hatten. Politische Spannungen resultierten ebenso aus der Hungersnot in den Jahren 1846 und 1847, weil aufgrund von Missernten Grundnahrungsmittel wie Getreide und Kartoffeln knapp waren.

Von der Februarrevolution in Frankreich beeinflusst, kam es am 27. Februar 1848 zu einer Volksversammlung von Liberalen – der „Mannheimer Volksversammlung“. Diese verfasste eine an die Regierung von Baden gerichtete Petition, die sich bald im gesamten Deutschen Bund als „Märzforderungen“ verbreitete. Darin verlangten sie fundamentale politische Reformen wie das Ende der Fürstenherrschaft, einen deutschen Nationalstaat, ein Nationalparlament, eine gemeinsame Verfassung, Volksbewaffnung, Bürgerrechte, Meinungs- und Pressefreiheit sowie öffentliche Gerichtsverhandlungen und Schwurgerichte.

Wachsende politische und soziale Missstände führten schließlich zum Ausbruch der Revolution. In vielen deutschen Städten kam es ab März 1848 zu blutigen Aufständen. Berlin wurde zum Mittelpunkt der März-Revolution. Am 18. März 1848 eskalierte vor dem Berliner Stadtschloss eine Großkundgebung von Bürgern, Arbeitern und Handwerkern. Bei den anschließenden Barrikadenkämpfen kamen ca. 250 Revolutionäre – die sog. Märzgefallenen – um. Die März-Revolution zwang die Fürsten zu politischen Reformen. Alle Hoffnungen richteten sich auf die Nationalversammlung. Ihr Auftrag war die Ausarbeitung einer freiheitlichen Verfassung mit einem breiten Grundkonsens für eine konstitutionelle Monarchie.

II. Die Paulskirchenverfassung

Am 18. Mai 1848 versammelten sich die demokratisch gewählten Abgeordneten des ersten gesamtdeutschen Parlaments in der Frankfurter Paulskirche. Sie kamen aus den Fürstentümern des Deutschen Bundes, aus Preußen und Österreich. Es war ein reines Männerparlament, oft auch als „Honoratiorenparlament“ bezeichnet, da die Abgeordneten – Akademiker, Beamte, Juristen, Politiker – überwiegend dem gehobenen Bürgertum zuzurechnen waren. Zu ihrem Präsidenten wählte die Nationalversammlung den liberalen Politiker Heinrich von Gagern.

Entstanden ist die erste moderne Verfassung in Deutschland, indem sie rechtsstaatliche, nationalstaatliche und demokratische Elemente verband und zugleich den Versuch zur nationalen Einigung darstellte. Zu den herausragendsten Leistungen der Nationalversammlung gehört das am 21. Dezember 1848 verabschiedete „Gesetz, betreffend die Grundrechte des deutschen Volks“, das einen umfangreichen Grundrechtskatalog enthielt.1 Dieser fand Eingang in die Paulskirchenverfassung und garantierte u. a. Freiheit der Person, Gleichheit vor dem Gesetz, Aufhebung aller Standesvorrechte, Glaubens-, Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit, Unverletzlichkeit des Eigentums, der Wohnung und des Briefgeheimnisses sowie Abschaffung der Todesstrafe.

Aus: RGBl 1849, Nr. 16, S. 101

Als Reaktion auf die von den Fürsten abhängige Justiz ersetzte die Paulskirchenverfassung die überlieferte Patrimonialgerichtsbarkeit sowie privilegierte Gerichtsstände durch staatliche Gerichte (§ 174) und formulierte wichtige Prozessgrundrechte wie Unabhängigkeit der Richter (§ 177), Prinzip des gesetzlichen Richters (§ 175), Öffentlichkeit und Mündlichkeit der Gerichtsverhandlung (§ 178). Der Anklageprozess (§ 179) führte die Staatsanwaltschaft als selbstständige Behörde zur Anklageerhebung ein. In § 179 heißt es: „In Strafsachen gilt der Anklageprozeß. Schwurgerichte sollen jedenfalls in schwereren Strafsachen und bei allen politischen Vergehen urtheilen.“ Dass den „Demokraten der ersten Stunde“ die Schwurgerichte besonders wichtig waren, wird in § 143 Abs. 3 zur Meinungs- und Pressefreiheit deutlich: „Über Preßvergehen, welche von Amts wegen verfolgt werden, wird durch Schwurgerichte geurtheilt.“

Die Nationalversammlung verabschiedete am 27. März 1849 in der Paulskirche die „Verfassung des Deutschen Reiches“.2 Am 28. März 1849 wählten die Abgeordneten den preußischen König Friedrich Wilhelm IV. zum Kaiser. Dieser lehnte jedoch – unter Berufung auf seine im Gottesgnadentum begründete Legitimation – die Kaiserkrone ab. Obwohl die meisten Staaten – bis auf die größeren – ihre Zustimmung zur Reichsverfassung erklärten, ist sie nie in Kraft getreten.

Die Bemühungen der Paulskirche um eine Verfassung und die Errichtung eines deutschen Nationalstaats waren gescheitert. Dennoch übernahmen in der Folgezeit die meisten Staaten die von der Nationalversammlung beschlossene Reform des Strafverfahrens und führten Schwurgerichte – vorzugsweise nach französischem Vorbild – ein, wobei die Geschworenen nur über die Schuldfrage zu entscheiden hatten. Die Verfassung für den preußischen Staat vom 31. Januar 1850 übernahm diese Garantie.3 Die folgenden Jahre waren rechtspolitisch von der Frage beherrscht, ob die Laienbeteiligung in Form von Schöffen- oder Schwurgerichten erfolgen sollte. Die „Amtliche Denkschrift über die Schöffengerichte“ von 1873 formulierte, „daß kein Strafurtheil ohne die Mitwirkung von Laien gefällt werden kann“.4 Das Gerichtsverfassungsgesetz, das mit den anderen Reichsjustizgesetzen am 1. Oktober 1879 für das ganze Reich in Kraft trat, sah ein Nebeneinander beider Formen vor: Schwurgerichte für schwere Verbrechen und Schöffengerichte für die mittlere Kriminalität.5

Die Urväter unserer heutigen Verfassung haben die Beteiligung des Volkes an der Rechtsprechung erstmals verfassungsrechtlich verankert. Die Paulskirchenverfassung war zwar keine gelebte Verfassung, aber zukunftsweisend und Vorbild für nachfolgende Verfassungen, insbesondere auch für die Weimarer Reichsverfassung und das Grundgesetz. Die Bundesrepublik Deutschland konnte an die Verfassungstradition der Paulskirche anknüpfen. Somit erinnern wir uns in diesem Jahr nicht nur an den 175. Jahrestag der deutschen Nationalversammlung am 18. Mai 1848 in Frankfurt am Main, sondern auch an den 75. Jahrestag des Zusammentritts des Parlamentarischen Rates am 1. September 1948 in Bonn.


Zitiervorschlag: Ursula Sens, Vor 175 Jahren – Die Frankfurter Nationalversammlung 1848/49, in: LAIKOS Journal Online 1 (2023) Ausg. 2, S. 83-84.

  1. RGBl 1848, S. 49.[]
  2. Verfassung des Deutschen Reiches vom 28.3.1849, RGBl 1849, S. 101.[]
  3. Verfassungs-Urkunde für den Preußischen Staat, Art. 94.[]
  4. In: Archiv für gemeines deutsches und für preußisches Strafrecht 1873, S. 40, 42.[]
  5. RGBl 1877, S. 41 (§ 25 ff. GVG Schöffengerichte, § 79 ff. GVG Schwurgerichte.[]

Über die Autoren

  • Ursula Sens

    Geschäftsführerin PariJus gGmbH, 1994–2018 Vorsitzende Deutsche Vereinigung der Schöffinnen und Schöffen – Bund ehrenamtlicher Richterinnen und Richter – Landesverband NRW e. V., 1995–2022, Heft 1 Mitarbeit Redaktion „Richter ohne Robe“

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