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Vor 90 Jahren – Das Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933

Von Ursula Sens, PariJus gGmbH

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Abstract
Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurde die Amtsperiode der nach demokratischen Grundsätzen gewählten ehrenamtlichen Richter vorzeitig beendet. Ausgangspunkt war ein Gesetz mit der euphemistischen Bezeichnung „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“ – sog. Ermächtigungsgesetz – vom 24. März 1933, das die Reichsregierung unter Adolf Hitler ausdrücklich zum Erlass von Gesetzen abweichend von der Verfassung ohne Zustimmung des Parlaments ermächtigte.

After the seizure of power by the National Socialists, the term of office of the lay judges elected according to democratic principles was ended prematurely. The starting point was a law with the euphemistic designation „Law to Remedy the Distress of the People and the Reich“ – the so-called Enabling Act – of 24 March 1933, which expressly authorised the Reich government under Adolf Hitler to enact laws in deviation from the constitution without the consent of parliament.

I. Zur Vorgeschichte

Reichspräsident von Hindenburg ernannte den NSDAP-Vorsitzenden Hitler am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler. Die nächsten Schritte zum Ausbau der Macht folgten zügig. Schon am 1. Februar 1933 wurde der Reichstag aufgelöst, um Neuwahlen herbeizuführen.1 Mit der „Verordnung zum Schutze des deutschen Volkes“ vom 4. Februar 1933 – der ersten NS-Notverordnung – sollten politische Gegner ausgeschaltet werden. Oppositionelle Betätigungen, etwa Verteilung von Druckschriften oder Wahlkampfkundgebungen, wurden massiv behindert oder verboten.2 Den Reichstagsbrand vom 27. Februar 1933 nutzte die Regierung Hitler, um mit der „Verordnung zum Schutz von Volk und Staat“ die bürgerlichen Grundrechte der Weimarer Verfassung „zur Abwehr kommunistischer staatsgefährdender Gewaltakte“ außer Kraft zu setzen.3 Damit war der Umbau der Staatsorganisation zur Diktatur auf „legalem“ Weg eingeleitet. Mit einem Ermächtigungsgesetz sollte der Reichsregierung ein eigenständiges Gesetzgebungsrecht – ohne Beteiligung anderer Verfassungsorgane, insbesondere des Parlaments – eingeräumt werden. Dazu musste der Reichstag die Änderung der Weimarer Reichsverfassung beschließen.

II. Der 23. März 1933

Bei der Reichstagswahl am 5. März 1933 wurde die NSDAP zwar stärkste Partei, erhielt aber nicht die absolute Mehrheit. Dennoch konnte das Ermächtigungsgesetz die parlamentarische Hürde am 23. März 1933 mit 444 gegen 94 Stimmen mühelos nehmen.4 Die als Ersatz für das Reichstagsgebäude genutzte Kroll-Oper wurde von SA- und SS-Mitgliedern bewacht, um die Abgeordneten einzuschüchtern. Nicht-nationalsozialistische Abgeordnete wurden angepöbelt und bedroht. Die SPD-Reichstagsfraktion nahm mit 94 von 120 Mitgliedern an der Sitzung teil; 26 Mitglieder waren aufgrund von Haft, Verfolgung oder Zwangsemigration an der Teilnahme gehindert.5 Die kommunistischen Abgeordneten hatten zur Sitzung schon keine Einladung mehr erhalten, etliche waren bereits verhaftet oder geflohen. Zur Verabschiedung des verfassungsändernden Gesetzes mussten zwei Drittel der gesetzlichen Mitglieder des Reichstags anwesend sein; zwei Drittel der Anwesenden mussten zustimmen. Um die erforderliche Mehrheit sicherzustellen, wurden die kommunistischen Mandate als nicht existent behandelt – ein Verfassungsbruch –, wodurch sich die gesetzliche Mitgliederzahl des Reichstags um 81 Mandate verringerte.6 Die SPD-Abgeordneten stimmten trotz massiver Drohungen als einzige Fraktion geschlossen gegen das Gesetz; die sog. bürgerlichen Parteien von liberal bis national-konservativ stimmten mit der NSDAP, teilweise aufgrund fadenscheiniger Versprechen des Reichskanzlers. Ahnungsvoll gipfelte die Rede des SPD-Parteivorsitzenden Otto Wels zur Begründung der Ablehnung des Ermächtigungsgesetzes in den Worten: „Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht.“7

Aus: RGBl I 1933, Nr. 25, S. 141

Die Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz8 erleichterte den Übergang von einer verfassungsmäßigen demokratischen Ordnung zur nationalsozialistischen Diktatur. Der Reichstag hat de facto seine legislative Kernfunktion vollständig auf die Reichsregierung übertragen. Die scheinbar formale Legitimation der Herrschaft war Hitler wichtig, um sich die Loyalität des Staatsapparates (Beamte, Polizei) zu sichern und das Gewissen bürgerlich-konservativer Sympathisanten und Mitläufer zu beruhigen.

III. Schöffen und Geschworene

Die weitere Machtübernahme vollzog sich in rasantem Tempo. Das Reichsjustizministerium unter Gürtler hatte nunmehr eine umfassende Gesetzgebungskompetenz.9 Die Gesetzgebung, zum Instrument des Terrors geworden, lief auf Hochtouren. Die „Gleichschaltung“ beseitigte die föderalistische Ordnung und die Selbstverwaltung der Gemeinden.10 Wenig später wurde die Säuberung des öffentlichen Dienstes und der Justiz eingeleitet. Nach dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933 wurden Beamte, die „nicht arischer Abstammung“ oder politisch unerwünscht waren, aus dem Staatsdienst entlassen.11

Das Ermächtigungsgesetz ebnete den Weg zur absoluten nationalsozialistischen Machtergreifung auch in der Rechtsprechung. Dabei wurde dem richterlichen Ehrenamt große Bedeutung beigemessen. Eine der ersten Maßnahmen war das „Gesetz über die Neuwahl der Schöffen, Geschworenen und Handelsrichter“ vom 7. April 1933, womit die Reichsregierung die Amtsperiode zum 30. Juni 1933 als beendet erklärte.12 Nach § 2 des Gesetzes sollten die Ausschüsse zur Wahl der Schöffen und Geschworenen (§ 40 GVG) „unverzüglich“ neu gewählt werden. § 3 ermächtigte die Landesjustizverwaltungen, bis zum Beginn der neuen Amtsperiode Bestimmungen über die Zuziehung von Schöffen und Geschworenen zu erlassen, wobei sie von den Vorschriften des Gerichtsverfassungsgesetzes abweichen konnten. Daraufhin stellten die Landesjustizverwaltungen eigene Richtlinien auf, die u. a. „Nichtarier“ und „volksfeindliche Personen“ von diesen Ämtern ausschlossen.13 Mit der Neuwahl sollten nunmehr linientreue ehrenamtliche Richter gewählt werden. Ein Jahr später verstärkte eine weitere Gesetzesänderung den alleinigen Einfluss der NSDAP auf die Wahl der Vertrauenspersonen im Wahlausschuss. Diese sollten nicht mehr gewählt, sondern durch den Amtsrichter ernannt werden.14

§ 40 Abs. 4 GVG: Er [der Amtsrichter] bestimmt dazu vornehmlich die Vorsteher der Gemeinden und der Gemeindeverbände seines Bezirks oder ihre Vertreter. Ferner bestimmt er dazu den Kreisleiter der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei seines Bezirks oder seinen Vertreter, falls diese nicht schon auf Grund des vorigen Satzes von ihm bestimmt sind; umfaßt der Amtsgerichtsbezirk mehrere Kreise der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei oder Teile von solchen, so schlägt der Gauleiter den vom Amtsgericht zu bestimmenden Kreisleiter vor.

RGBl I 1934, S. 1233

Der Alleinvertretungsanspruch der NSDAP wurde damit auch auf die Gerichtsbesetzung mit ehrenamtlichen Richtern ausgedehnt. Über die „Vorteile“ berichtet Gerichtspräsident Leimer (Landgericht Kempten im Allgäu): Mit den „einheitlich nach nationalsozialistischen Gesichtspunkten“ gewählten Schöffen und Geschworenen sei das „früher vermißte einigende Band“ vorhanden, „das nationalsozialistische Gedankengut zu verwirklichen“.15

Der NSDAP und ihren Organisationen war es in nur wenigen Monaten gelungen, das gesamte gesellschaftliche, politische, wirtschaftliche und kulturelle Leben im Staat zu bestimmen. 1939 wurden Schöffen und Geschworene – mit Ausnahme derjenigen beim Volksgerichtshof – „kriegsbedingt“ vollständig abgeschafft.16 Nach 1945 wurde die Mitwirkung ehrenamtlicher Richter in zahlreiche Landesverfassungen aufgenommen. Der Tübinger Jura-Professor Eduard Kern konnte seinen Vortrag auf dem Konstanzer Juristentag 1947 mit den Worten beginnen: „Die Frage, ob in Deutschland das Volk an der Rechtsprechung mitwirken soll, ist eigentlich gar keine Frage; ihre Bejahung ist selbstverständlich.“17


Zitiervorschlag: Ursula Sens, Vor 90 Jahren – Das Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933, in: LAIKOS Journal Online 1 (2023) Ausg. 2, S. 81-83.

  1. Verordnung über die Auflösung des Reichstags, RGBl I 1933, S. 45; Verordnung über die Neuwahl des Reichstags, RGBl I 1933, S. 45.[]
  2. RGBl I 1933, S. 35.[]
  3. RGBl I 1933, S. 83.[]
  4. Verhandlungen des Reichstags, 8. Wahlperiode 1933, Bd. 457, S. 45; Adalbert Hess, Das Abstimmungsergebnis zum Ermächtigungsgesetz vom 23. März 1933, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 1985, S. 5-6.[]
  5. Thomas Oppermann, Das Ermächtigungsgesetz und die Zerstörung der parlamentarischen Demokratie von Weimar, in: Recht und Politik 2008, S. 87-90.[]
  6. Nachträgliche „Legalisierung“ im Vorläufigen Gesetz zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich vom 31.3.1933, RGBl I 1933, S. 153; nach § 10 ist die Zuteilung von Sitzen an die Kommunistische Partei unwirksam.[]
  7. Verhandlungen des Reichstags, 8. Wahlperiode 1933, Bd. 457, S. 33A.[]
  8. RGBl I 1933, S. 141; Verlängerungen: Gesetz vom 30.1.1937, RGBl I 1937, S. 105; Gesetz vom 30.1.1939, RGBl I 1939, S. 95; Führererlass vom 10.5.1943, RGBl I 1943, S. 295.[]
  9. Umfangreiche Darstellung der Justiz in der Ära Gürtler: Lothar Gruchmann, Justiz im Dritten Reich 1933-1940, 2. Aufl., 1990; Gustav Radbruch, Des Reichsjustizministeriums Ruhm und Ende, Süddeutsche Juristen-Zeitung 1948, Sp. 57-64.[]
  10. Vorläufiges Gesetz zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich vom 31.3.1933, RGBl I 1933, S. 153.[]
  11. RGBl I 1933, S. 175.[]
  12. RGBl I 1933, S. 188.[]
  13. Für Preußen: AV des JM vom 13.11.1933, Deutsche Justiz 1933, S. 673, 675.[]
  14. Gesetz zur Änderung des Gerichtsverfassungsgesetzes vom 13.12.1934, RGBl I 1934, S. 1233.[]
  15. Leimer, Erfahrungen mit Schöffen und Geschworenen in der Zeit vor und nach der nationalsozialistischen Machtergreifung, in: Freisler/Dörffler (Hrsg.), Der Volksrichter in der neuen deutschen Strafrechtspflege, 1937, S. 20, 22.[]
  16. Verordnung über Maßnahmen auf dem Gebiete der Gerichtsverfassung und der Rechtspflege vom 1.9.1939, RGBl I 1939, S. 1658.[]
  17. Die Beteiligung des Volkes an der Strafrechtspflege, in: Der Konstanzer Juristentag, 1947, S. 135-154.[]

Über die Autoren

  • Ursula Sens

    Geschäftsführerin PariJus gGmbH, 1994–2018 Vorsitzende Deutsche Vereinigung der Schöffinnen und Schöffen – Bund ehrenamtlicher Richterinnen und Richter – Landesverband NRW e. V., 1995–2022, Heft 1 Mitarbeit Redaktion „Richter ohne Robe“

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