VG Kassel: Zeitgutschrift für Tätigkeit als ehrenamtliche Richterin
- Landesrechtliche Vorschriften (hier: § 16 Nr. 1 HUrlVO) räumen dem Dienstherrn gegenüber Beschäftigten im richterlichen Ehrenamt kein Ermessen ein, ob eine Freistellung erfolgt oder wie eine Verhinderung aufgrund der Wahrnehmung von Sitzungsterminen auszugleichen ist. Hier greift die vorrangige Sonderregelung des § 45 Abs. 1a Satz 2 DRiG ein, nach der eine Freistellung erfolgen muss.
- In den Fällen, in denen eine Freistellung erforderlich wird, ist nach § 45 Abs. 1a Satz 2 DRiG versäumte Arbeitszeit arbeitszeitrechtlich als im Beamtenverhältnis geleistet zu behandeln und folglich dem Arbeitszeitkonto des Beamten gutzuschreiben. (Leitsätze d. Red.)
VG Kassel, Urteil vom 13.9.2021 – 1 K 1356/20.KS
Sachverhalt: Die Klägerin (K.) ist beim Beklagten (B.) im Beamtenverhältnis tätig. Eine „Dienstvereinbarung Arbeitszeit“ (DVA) regelt eine Rahmenarbeitszeit montags bis freitags von 6.00 bis 19.00 Uhr, innerhalb derer jeder Beschäftigte seine Arbeitszeit im Wesentlichen frei festlegen kann; jedoch ist eine „Servicezeit“ von 9.00 bis 15.00 Uhr bzw. freitags bis 13.30 Uhr einzuhalten, während der in jeder Organisationseinheit ausreichend qualifizierte Beschäftigte anwesend sein müssen. In der DVA heißt es u. a.:
„Dienst-/Arbeitsbefreiung, die aufgrund gesetzlicher oder tarifvertraglicher Bestimmungen gewährt wird, wird als Arbeitszeit angerechnet. Ist ganztägige Dienstbefreiung erteilt worden, wird die Sollarbeitszeit angerechnet. In den Fällen, in denen Beginn oder Ende am Zeiterfassungsterminal nicht gebucht wird, ist vormittags vom fiktiven Arbeitsbeginn 7:30 Uhr bis zum tatsächlich gestempelten Ende und nachmittags vom tatsächlich gestempelten Beginn bis zum fiktiven Ende 16:00 Uhr als Arbeitszeit anzurechnen – zusammen mit der geleisteten Arbeitszeit maximal jedoch die Sollarbeitszeit.“
Die K., die in Vollzeit arbeitet, ist ehrenamtliche Richterin in der Arbeitsgerichtsbarkeit. 2018 teilte ihr der B. mit, dass sie für Tätigkeiten, die nur während der üblichen Dienstzeit wahrgenommen werden könnten, nach pflichtgemäßem Ermessen auf Grundlage des Fürsorgeprinzips jeweils Dienstbefreiung erhalte. Am 24.4.2019 nahm die K. einen Sitzungstermin wahr. Die Arbeitszeit wurde nicht am Zeiterfassungsterminal gebucht. Im Korrekturbeleg gab die K. an: „Kommen: 9.30 Uhr, Gehen: 19.55 Uhr“. Im Zeiterfassungssystem wurde manuell eingegeben: „Kommen: 9.30 Uhr, Gehen: 16.00 Uhr“; 30 Minuten wurden als Pausenzeit abgezogen. Es erfolgte damit eine Zeitgutschrift von 6 Std. Die K. beantragte unter Bezugnahme auf die DVA die Gutschrift der regelmäßigen Sollarbeitszeit von 8 Std. und 12 Min.
Rechtliche Würdigung: 1. Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch ist § 45 Abs. 1a Satz 1 und 2 DRiG, wonach niemand in der Übernahme oder Ausübung des Amtes als ehrenamtlicher Richter beschränkt oder benachteiligt werden darf und ehrenamtliche Richter für die Zeit ihrer Amtstätigkeit von der Arbeitsleistung freizustellen sind.
2. Dem Dienstherrn steht kein Ermessen zu, ob eine Freistellung erfolgt oder wie eine Verhinderung aufgrund der Wahrnehmung von Sitzungsterminen auszugleichen ist. Zwar ist gemäß § 16 Nr. 1 Hessische Urlaubsverordnung (HUrlVO) dem Dienstherrn ein Ermessen eingeräumt, ob und in welchem Umfang zur Erfüllung allgemeiner staatsbürgerlicher Pflichten Dienstbefreiung gewährt wird; jedoch greift hier die Sonderregelung des § 45 Abs. 1a Satz 2 DRiG, nach der eine Freistellung erfolgen muss. § 45 Abs. 1a DRiG verlangt die uneingeschränkte und unbedingte Freistellung der ehrenamtlichen Richter durch den Dienstherrn für die Zeit, für die er vom Gericht, bei dem er tätig ist, tatsächlich in Anspruch genommen wird (OVG Rheinland-Pfalz vom 19.6.2009, 10 A 10171/09, RohR 2009, S. 108).
3. § 45 Abs. 1a Satz 2 DRiG enthält keine Regelung, ob bei Beamten die versäumte Arbeitszeit nachzuholen ist. Hier gilt der Grundsatz, dass nicht geleisteter Dienst von Beamten nicht nachzuholen ist und auch nicht nachgeholt werden kann. Der vom Beamten geschuldete Dienst besteht in der Pflicht, die dienstlichen Aufgaben während eines bestimmten Zeitraums zu erfüllen. Für ein Nacharbeiten versäumter Arbeitszeit fehlt die rechtliche Grundlage (BVerwG vom 29.7.2011, 2 C 45/09, RohR 2011, S. 143). Damit ist in den Fällen, in denen eine Freistellung erforderlich wird, nach § 45 Abs. 1a Satz 2 DRiG versäumte Arbeitszeit arbeitszeitrechtlich als im Beamtenverhältnis geleistet zu behandeln und folglich dem Arbeitszeitkonto des Beamten gutzuschreiben.
4. Bei Gleitzeitregelung ist der Stundenausgleich lediglich auf die Kernarbeitszeit beschränkt, weil eine zeitlich konkretisierte Dienstleistungspflicht nur im Rahmen der Kernarbeitszeit besteht und der Beamte nur in diesem Zeitraum seine dienstlichen Verrichtungen zu festgelegten Zeiten erfüllen muss. Demgegenüber steht der Anwesenheitspflicht des ehrenamtlichen Richters im Gericht während der Gleitzeitphase regelmäßig keine zeitlich konkretisierte Pflicht zur Dienstleistung gegenüber, sodass eine Freistellung bzw. ein Stundenausgleich nicht erforderlich ist. Diese Grundsätze sind auch bei der K. anzuwenden, auch wenn keine Gleitzeitregelung besteht. Der Rechtsprechung lässt sich der Grundsatz entnehmen, dass bei Beamten nur die Zeiten auszugleichen sind, an denen der Betreffende zwingend an der Dienststelle anwesend sein muss, da nur insoweit eine zeitlich konkretisierte Pflicht zur Dienstleistung besteht. Da bei dem B. jeder Bedienstete in der Rahmenarbeitszeit zwischen 6.00 Uhr und 19.00 Uhr seine Arbeitszeit frei bestimmen kann, würde streng genommen im Falle der K. kein Anspruch auf Freistellung bestehen. Versäumte Stunden am Sitzungstag könnte sie jeweils vor- oder nacharbeiten.
5. Dies würde jedoch gegen Sinn und Zweck des § 45 Abs. 1a DRiG verstoßen, denn dadurch würde in Dienststellen, in denen eine Rahmenarbeitszeit festgelegt worden ist, keinerlei Ausgleich stattfinden. Diese Bediensteten würden gegenüber anderen ehrenamtlichen Richtern im Beamtenverhältnis benachteiligt. Daher ist es sachgerecht und geboten, in Fällen wie dem vorliegenden die Regelung der Ziffer 2.8.1 DVA anzuwenden, wie dies der B. auch getan hat.
6. Eine Anrechnung der gesamten Sollarbeitszeit nach Ziffer 2.8.1 Abs. 2 der DVA kommt nicht in Betracht. Dies wäre nur dann der Fall, wenn der K. ganztägig Dienstbefreiung erteilt worden wäre. Dies ist jedoch nicht erfolgt. Die Dienstbefreiung sollte sich nur auf die Dauer erstrecken, während derer die K. tatsächlich als ehrenamtliche Richterin tätig war. Dies entspricht auch der gesetzlichen Regelung des § 45 Abs. 1a Satz 2 DRiG, wonach ehrenamtliche Richter lediglich „für die Zeit ihrer Amtstätigkeit“ freizustellen sind.
7. Damit greift Ziffer 2.8.1 Abs. 3 DVA ein. Hiernach war der K. die Zeit ab Beginn der ehrenamtlichen Tätigkeit (9.30 Uhr) bis 16.00 Uhr als Arbeitszeit gutzuschreiben, abzüglich der Pause von 30 Min. gemäß Ziffer 2.6 DVA. Dies hat der B. getan und ist damit der Verpflichtung aus § 45 Abs. 1a Satz 2 DRiG vollumfänglich nachgekommen.
8. Durch die DVA wird nicht gegen § 45 Abs. 1a Satz 1 Alt. 2 DRiG verstoßen, der eine Schlechterstellung aufgrund des Ehrenamtes ohne sachlichen Grund verbietet. Es ist Beamten grundsätzlich zuzumuten, einen Teil des zeitlichen Rahmens, der bei einer flexiblen Arbeitszeit zur Verfügung steht, für die Ausübung des öffentlichen Ehrenamtes einzusetzen. Ein Rechtssatz, dass die Wahrnehmung eines öffentlichen Ehrenamtes – auch eines solchen, dessen Übernahme nur aus wichtigem Grund abgelehnt werden kann (vgl. § 24 ArbGG) – nicht auf Kosten der Freizeit des Amtsträgers gehen darf, besteht nicht (BVerwG, Urteil vom 28.7.2011, RohR 2011, S. 143). Anders ist dies nur dann, wenn sich die zeitlichen Belastungen durch das Ehrenamt als übermäßig und damit nicht mehr zumutbar erweisen. Als Grenze nimmt das BVerwG eine Belastung von maximal drei nicht ausgeglichenen Stunden pro Woche an. Da die K. am 24. April 2019 lediglich 2.12 Stunden über die anerkannte Arbeitszeit tätig war und weitere ehrenamtliche Tätigkeiten im April 2019 nicht erfolgten, wurde diese Anforderung der Rechtsprechung eingehalten.
Anmerkung: Das grundsätzliche Problem der Entscheidungen zur Entschädigung bzw. Gutschrift der Arbeitszeit ist darin begründet, dass der Gesetzgeber in Angelegenheiten des Arbeitslebens immense Zeit benötigt, bis eingeführte Rechtsvorschriften den veränderten Bedingungen der Lebenswirklichkeit angepasst werden. Die Entschädigungsregeln des JVEG und die Freistellungsregeln des DRiG entsprechen nicht mehr der flexibilisierten Arbeitszeit in den Betrieben. Die zunehmende Tätigkeit im Homeoffice, die durch die COVID-Pandemie einen Auftrieb erhalten hat, wird das Problem noch verstärken. Die letzten Änderungen auf diesem Gebiet haben sich mit quantitativen Regeln zufriedengegeben, ohne die grundlegenden Probleme anzugreifen.1 Auch die „Hüter der Beteiligung des Volkes an der Staatsgewalt“ (BündnisGrüne und SPD) übergehen seit Jahren trotz zahlreicher direkter Gespräche die Rechtslage geflissentlich. Für den Bereich der Arbeitnehmer könnten die Tarifparteien eine Linderung herbeiführen, was aber Arbeitgeberverband wie DGB im Rahmen der Gespräche im seinerzeitigen Beirat der DVS dem Gesetzgeber zugewiesen haben. In einer umfangreichen Besprechung dieser Entscheidung mahnt der ehem. Präsident des Hessischen LAG Dr. Peter Bader eine gesetzgeberische Entscheidung an, die ehrenamtliche Richter nicht mehr benachteiligt.2 Die höchstrichterliche Rechtsprechung von BAG und BVerwG verweigert – anders einige Obergerichte der Länder3 – beharrlich eine sozialverträgliche Lösung für die Ehrenamtlichen auf der Richterbank. BAG und BVerwG ziehen sich auf den Satz zurück: „Ein Rechtssatz, dass die Wahrnehmung eines öffentlichen Ehrenamtes – auch eines solchen, dessen Übernahme nur aus wichtigem Grund abgelehnt werden kann (vgl. § 24 ArbGG) – nicht auf Kosten der Freizeit des Amtsträgers gehen darf, besteht nicht.“ Diese Aussage übergeht z. B. die Tatsache, dass ehrenamtliche Helfer im Technischen Hilfswerk einen (vollen) Lohnfortzahlungsanspruch gegen ihren Arbeitgeber haben (§ 3 Abs. 1 THW-Gesetz), der diese Kosten von der öffentlichen Hand erstattet bekommt. Von einer Aufopferung, die den ehrenamtlichen Richtern zugemutet werden kann, ist bei ihnen keine Rede. Ob für diese Ungleichbehandlung ein sachlicher Grund im Sinne des Art. 3 GG besteht, ist mehr als fraglich. (hl)
Link zum Volltext der Entscheidung
Zitiervorschlag: VG Kassel: Zeitgutschrift für Tätigkeit als ehrenamtliche Richterin, in: LAIKOS Journal Online 1 (2023) Ausg. 1, S. 35-37.
- Vgl. Lieber, Zum Referentenentwurf zur Änderung des JVEG, RohR 2020, S. 22 ff.[↩]
- jurisPR-ArbR 12/2022 Anm. 7.[↩]
- Vgl. etwa LAG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 6.9.2007, 26 Sa 577/07: „Unter Arbeitszeit im Sinne des § 29 Abs. 2 TVöD ist im Falle von Gleitzeitregelungen nicht ausschließlich die Kernarbeitszeit zu verstehen“, RohR 2009, S. 52.[↩]