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BGH: Unterbrechungsfrist bei erkranktem Ergänzungsschöffen

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  1. Ergänzungsschöffen sind auch vor ihrem Eintritt in das erkennende Gericht (§ 192 Abs. 2 GVG) „zur Urteilsfindung berufene Personen“ im Sinne von § 229 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 StPO.
  2. Zu den Aufgaben der Ergänzungsschöffen gehört, der Hauptverhandlung jederzeit so zu folgen, als ob sie an der Urteilsberatung und der abschließenden Entscheidung teilnehmen müssen. (Leitsätze d. Red.)

BGH, Beschluss vom 3.11.2022 – 6 StR 296/21

Sachverhalt: Nach dem Hauptverhandlungstermin vom 27.7.2017 wurde am 7.8.2017 die Erkrankung des Ergänzungsschöffen J. bekannt. Daraufhin hob die Vorsitzende die Fortsetzungstermine auf und die Strafkammer stellte mit Beschluss vom 16.8.2017 die Hemmung der Unterbrechungsfrist ab dem 5.8.2017 fest. Mit Verfügung vom 4.9.2017 hob die Vorsitzende die Zuziehung des Ergänzungsschöffen auf, weil sich herausgestellt hatte, dass dieser auf absehbare Zeit nicht genesen werde. Die Hauptverhandlung wurde am 7.9.2017 fortgesetzt.

Rechtliche Würdigung: Kann ein Angeklagter „oder eine zur Urteilsfindung berufene Person“ an einer Hauptverhandlung, die bereits an mindestens zehn Tagen stattgefunden hat, wegen Krankheit nicht teilnehmen, ist die Frist der zulässigen Unterbrechung während der Dauer der Verhinderung gehemmt – nach dem Recht von 2017 für längstens sechs Wochen, heute für zwei Monate (§ 229 Abs. 3 StPO). Die Rechtmäßigkeit der Unterbrechung hängt davon ab, ob der Ergänzungsschöffe schon vor seinem Eintritt in das Verfahren (§ 192 Abs. 2 GVG) eine „zur Urteilsfindung berufene Person“ ist. Dies hat der BGH bejaht.

(1) Der Wortlaut von § 229 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 StPO trägt dieses Verständnis. Der Begriff „Urteilsfindung“ lässt – im Unterschied zum Begriff der „Entscheidung“ – die Auslegung zu, dass damit auch der Prozess der richterlichen Wahrheitsermittlung gemeint ist, auf dessen Ergebnis die abschließende Entscheidung beruht.

(2) Für diese Auslegung streitet auch die systematische Stellung der Vorschriften über die Höchstdauer der Unterbrechung im Abschnitt über die Hauptverhandlung. Zu den Aufgaben des Ergänzungsschöffen gehört, der Hauptverhandlung so zu folgen, als ob er an der Urteilsberatung und der abschließenden Entscheidung teilnehmen müsse. Deshalb hat er das Recht, Zeugen und Sachverständige zu befragen, muss Bedeutung und Tragweite von Zeugenaussagen und Gutachten abschätzen sowie sich – vorläufig – ein Urteil über die Glaubhaftigkeit der Angaben der Zeugen bilden. Kommt er nicht zum Einsatz, hat er zwar nicht an der Entscheidung, aber an der Verhandlung mitgewirkt, die der Entscheidung vorausgeht.

(3) Dieses Verständnis steht im Einklang mit dem Willen des Gesetzgebers, durch das seinerzeitige Gesetz zur Modernisierung der Justiz die Gerichte zu entlasten, indem auch die Erkrankung eines der Mitglieder des Spruchkörpers lediglich zur Aussetzung der Hauptverhandlung, nicht – wie nach vorherigem Recht – zu deren Abbruch führt.

(4) Sinn und Zweck des § 229 Abs. 3 Satz 1 StPO zielen ab auf Ressourcenschonung sowie Vermeidung einer Aussetzung der Hauptverhandlung, die bei langwierigen Beweisaufnahmen und in Haftsachen den Angeklagten erheblich belasten würde. Diesem Zweck dient es, wenn auch ein Ergänzungsschöffe bei vorübergehender Erkrankung nicht endgültig ausscheiden muss, sondern das Verfahren mit ihm fortgesetzt werden kann und er weiterhin zum möglichen Einsatz zur Verfügung steht.

Anmerkung: Nach der sog. Konzentrationsmaxime ist ein Verfahren zügig und ressourcenschonend zu gestalten, was Einfluss sowohl auf die Vorbereitung durch das Gericht als auch auf das Vorbringen und die Wahrnehmung von Rechtsbehelfen, Anträgen usw. der Verfahrensbeteiligten hat. Deshalb darf die Hauptverhandlung nicht für länger als 21 Tage und erst nach 10 Verhandlungstagen bis zu einem Monat unterbrochen werden. Diese Frist kann durch bestimmte Ereignisse gehemmt werden, z. B. durch die Erkrankung einer „zur Urteilsfindung berufenen Person“. Diese Hemmung wiederum darf nicht länger als zwei Monate dauern. Spätestens 10 Tage nach Ablauf der Hemmungsfrist muss die Verhandlung fortgesetzt werden, ansonsten die Verhandlung erneut beginnen muss. Der Gesetzgeber hat mit der Hemmung dem Umstand Rechnung getragen, dass Umfangsverfahren z. B. in Schwurgerichts- oder Wirtschaftsstrafsachen nicht durch Krankheit eines Beteiligten abgebrochen werden sollen. Auch der Einsatz von Ergänzungsschöffen ist eine Maßnahme, umfangreiche Verfahren zu Ende zu bringen, ohne bei Erkrankungen erneut beginnen zu müssen. In der vorliegenden Entscheidung geht es um die Frage, ob die Erkrankung eines Ergänzungsschöffen als noch nicht stimmberechtigtem Mitglied des Gerichts ebenfalls die Hemmung der Unterbrechungsfrist auslöst. Die Beantwortung hängt davon ab, ob ein Ergänzungsschöffe „zur Urteilsfindung berufen“ ist, was der BGH aus dem Wortlaut, der Systematik, dem Willen des Gesetzgebers und der Zielsetzung der Norm bejaht. Damit sind die klassischen Methoden der Auslegung und Interpretation einer Rechtsvorschrift genannt.

Der Beschluss macht für die Ergänzungsschöffen deutlich, dass sie im Verfahren bereits „mittendrin“ und nicht nur „dabei“ sind, soweit es um die Beweisaufnahme geht. Sie müssen für den Fall ihres Eintritts voll im Stoff stehen und haben daher der Verhandlung mit der gleichen Aufmerksamkeit zu folgen wie Hauptschöffen. Deshalb haben sie das Recht, Fragen an Angeklagte, Zeugen und Sachverständige zu stellen (§ 240 Abs. 2 StPO). Sie nehmen an der Beratung nicht teil; diese ist den zur Entscheidung berufenen Personen vorbehalten. Ergänzungsschöffen sind, bevor sie ordentliche Mitglieder des Spruchkörpers werden, zur Urteilsfindung, aber noch nicht zur Urteilsentscheidung berufen. Wird ein Ergänzungsschöffe krank, kann dies zur Hemmung der zulässigen Frist zur Unterbrechung der Hauptverhandlung führen, sodass diese erst nach seiner Genesung (spätestens nach zwei Monaten und ggf. bis zu 10 weiteren Tagen) fortgesetzt wird. Hier war die Genesung des Ergänzungsschöffen innerhalb der Höchstfrist nicht zu erwarten, weshalb er – wie ein kranker Hauptschöffe in solchem Fall auch – aus dem Verfahren ausscheidet. Damit muss die Genesung nicht abgewartet und der Prozess kann fortgesetzt werden – mit einem Ergänzungsschöffen weniger für den nächsten Notfall.

Diese Stellung der Ergänzungsschöffen hat Auswirkungen auf weitere Umstände im Laufe der Hauptverhandlung. Ihnen ist wie den Hauptschöffen der Anklagesatz auszuhändigen (Nr. 126 Abs. 3 RiStBV), desgleichen die Urkunden im sog. Selbstleseverfahren (§ 249 Abs. 2 StPO). (hl)

Link zum Volltext der Entscheidung

Zitiervorschlag: BGH: Unterbrechungsfrist bei erkranktem Ergänzungsschöffen, in: LAIKOS Journal Online 1 (2023) Ausg. 1, S. 32-33.

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