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Der Urlaub eines Schöffen – und was die Medien daraus machen

Von Hasso Lieber, PariJus gGmbH

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Abstract
Am ersten Tag einer Hauptverhandlung mit einer Serie von Pannen scheitert die Fortsetzung an dem Urlaub eines Schöffen. Eine Welle von Presseberichten schiebt dem Schöffen die Verantwortung zu. Dabei ist er ebenso nur Betroffener einer katastrophalen Prozessvorbereitung wie Angeklagte, Zeugen, Geschädigte und Beobachter. Einen Betroffenen zur Zielscheibe zu machen, ist nicht nur aus der Perspektive des Angeklagten ein oft beobachtetes mediales Problem.

On the first day of a main trial with a series of mishaps, its continuation fails due to a lay judge’s holiday. A wave of press reports puts the responsibility on the lay judge. Yet, he is just as much a victim of disastrous trial preparation as the defendants, witnesses, injured parties and observers in court. Making a person a target is not only from the defendant’s perspective a frequently observed problem in the media.

I. Chaotischer Prozessbeginn

Die Deutsche Presseagentur (dpa) berichtete am 28. April 2023; Tagespresse und Rundfunk übernahmen die Nachricht von einem „geplatzten“ Strafverfahren vor dem Amtsgericht Gelsenkirchen. Gegenstand des Prozesses war eine Anklage der Staatsanwaltschaft beim Schöffengericht gegen zwei Tagesmütter einer Mini-Kita wegen Verdachts der fahrlässigen Tötung. Ein zweijähriger Junge im unteren Bett eines Zwei-Etagen-Bettes wollte nicht einschlafen und trat mit den Füßen gegen die nicht fest verankerte Bodenplatte des oberen Bettes. Dieses fiel herunter, sodass der Junge erstickte. Die Staatsanwaltschaft warf den beiden Frauen vor, ihre Aufsichtspflicht verletzt und dadurch fahrlässig den Tod des Kindes verantwortet zu haben.

Der nur zweistündige Prozess gestaltete sich chaotisch. Völlig überrascht stellte das Gericht in der Hauptverhandlung fest, dass die Eltern des kleinen Ghiath nur Arabisch sprachen. Daraufhin wurde eilig ein Übersetzer herbeitelefoniert. Auch eine der angeklagten Tagesmütter sprach so schlecht Deutsch, dass ein Dolmetscher für Spanisch benötigt wurde. Originalton der Presseberichte: „Da die Frau aber ohnehin nichts sagen wollte, war das erst mal kein Problem.“ Es wurde ohne Spanisch-Dolmetscher weiterverhandelt. Dass eine Angeklagte in ihrem Verfahren nicht nur sprechen darf, sondern den Verlauf der Hauptverhandlung auch verstehen soll, spielte offenbar weder im Verständnis der berichterstattenden Journalisten noch des Gerichts eine Rolle. Ein Jurastudium ist für diese Erkenntnis jedenfalls nicht erforderlich. Im Anschluss an die Zeugenaussagen der Eltern des Kindes sollte ein Rechtsmediziner sein Gutachten über das Ergebnis der Obduktion des Kindes erstatten, um die genauen Umstände des Todes zu klären. Dieser hatte jedoch dem Gericht mitgeteilt, inzwischen pensioniert zu sein und nicht erscheinen zu wollen; sein schriftliches Gutachten müsse ausreichen.

II. Hauptverhandlung platzt

Da man an diesem Tag nicht weiterkam, sollte der Prozess am nächsten Verhandlungstag fortgesetzt werden; für den 3. Mai 2023 war bereits geladen. Es gab eine kurze Pause, in der einer der beiden Schöffen erklärte, an diesem Termin in Urlaub zu sein. Von ungläubigen Blicken der anderen Prozessbeteiligten war in den Berichten zu lesen. Innerhalb des gesetzlich zulässigen Zeitraums von 21 Tagen für eine Unterbrechung der Hauptverhandlung gab es keine Möglichkeit für einen anderen Termin. Ohne den Schöffen konnte nicht weiterverhandelt werden, da er mit dem Vorsitzenden und dem weiteren Schöffen der gesetzliche Richter für dieses Verfahren ist. Der Termin muss im Oktober 2023 erneut beginnen. Mit großem Bedauern und Mitgefühl endeten die meisten Berichte mit dem Hinweis, dass die Eltern des Opfers dann noch einmal aussagen müssen.

Der Schuldige war für die Berichterstatter ebenso schnell wie einmütig gefunden. Der Stern titelte: „Prozess um Tod von Zweijährigem in Kita scheitert – wegen Urlaubsplänen eines Schöffen.“1 Offensichtlich handelt es sich dabei um die Überschrift der dpa-Meldung, da die Titelzeile vom ursächlichen Scheitern des Prozesses an den Urlaubsplänen des Schöffen wörtlich oder mit kleinen Abwandlungen ebenso von Focus, t-online, Antenne Münster, RP online, der Süddeutschen Zeitung, Berliner Morgenpost, Ludwigsburger Kreiszeitung, Münchener Abendzeitung, dem Bonner Generalanzeiger, Kölner Stadtanzeiger übernommen wurde. BILD titulierte gewohnt emotional: „Prozess platzt, weil Schöffe in Urlaub fährt – Eltern von ersticktem Kind wütend auf Gericht.“ Im Text hieß es präzisierend: „Doch die Urlaubspläne eines Schöffen machten dem Ganzen einen Strich durch die Rechnung. Er sei den kompletten Mai über in Italien im Urlaub.“2 Auch für die Westdeutsche Zeitung war der Grund für den Abbruch ebenso klar wie einfach: „… und am Ende sorgt ein Schöffe mit seinen Urlaubsplänen für den vorzeitigen Abbruch.“3 Beim Lesen dieser Berichte hatte sich bis zu diesem Zeitpunkt viel Unmut gegen den Schöffen aufgestaut, der die Pflichten seines Amtes so wenig ernst nahm und verabsäumte, sich nach Erhalt der Ladung ordnungsgemäß wegen des bereits gebuchten Urlaubs von der Hauptverhandlung befreien zu lassen.

III. Der wahre Grund

Der Unmut wendet sich, als das Auge auf die Headline des Berichts im Westdeutschen Rundfunk fällt. „Prozess um ersticktes Kita-Kind in Gelsenkirchen muss verschoben werden“, lautete es in ungewohnt neutralem Ton. Der WDR hatte nämlich nachgehakt. Der Direktor des Amtsgerichts hatte klargestellt, dass der Schöffe aufgrund eines organisatorischen Versagens versehentlich über den Folgetermin am 3. Mai 2023 nicht benachrichtigt worden sei.4 Der Schöffe wusste nichts von einer geplanten Fortsetzung. Auch der lokale Rundfunksender Radio Emscher Lippe berichtete: „Im Gespräch mit uns hat der Direktor des Amtsgerichts die Verantwortung für den Fehler übernommen und das Ganze bedauert. Der zweite Termin sei dem Schöffen nicht mitgeteilt worden.“ Dennoch war auch dieser Bericht mit der Überschrift versehen: „Junge stirbt in Kita – Prozess an Urlaubsplänen gescheitert.“5 Diese Headline führt Leser bzw. Hörer in die Irre. Der Prozess war eben nicht an den Urlaubsplänen gescheitert, sondern weil der Schöffe über den in seinen Urlaub fallenden Fortsetzungstermin nicht informiert war und sich folglich nicht von diesem Termin befreien lassen konnte. Hier stellt sich die Frage, warum selbst WDR und Radio Emscher Lippe nicht die tatsächliche Ursache, die zum Scheitern des Verfahrens führte, hervorgehoben haben und dpa es bei dem Report über den äußeren Geschehensablauf beließ. Korrekturen der Berichterstattung, wie sie im Netz bei Verstößen gegen Mainstream-Meinungen an der Tagesordnung sind, vermisste man an diesem Tag. Auch nachdem die Erklärung zu den Medien durchgedrungen war, wurde auf Schuldzuweisung an den Schöffen nicht verzichtet. Sorgfältiger Journalismus sieht anders aus.

IV. Organisation ist alles

Gleichwohl gibt das Geschehen Anlass, über eine Verbesserung der Kommunikation zwischen Gericht und Schöffen nachzudenken. Die meisten Gerichte belassen es bei der Ladung der Schöffen mit der Information von Tag, Stunde und Ort der Hauptverhandlung. Ich habe bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass die Mitteilung der Namen von Angeklagten und Zeugen des Verfahrens sowie ein Hinweis auf den Prozessgegenstand den Schöffen die Möglichkeit gibt, auf eine evtl. Besorgnis der Befangenheit wegen Verbindung zu Beteiligten hinzuweisen. Erfolgt diese Information erst in der Verhandlung, ist der Prozess schon zu Ende. Im geschilderten Fall hätte die bloße Mitteilung, dass beim Schöffengericht eine ganztägige Hauptverhandlung ansteht, den Schöffen zu einem Hinweis auf seinen anstehenden vierwöchigen Urlaub veranlassen können, der eine Fortsetzung innerhalb der 21-Tage-Frist nicht ermöglicht hätte. Dann wäre im konkreten Fall der Ladungsfehler aufgefallen. Allerdings hat diese Art der Kommunikation zwischen Schöffen und Gericht auch zur Voraussetzung, dass Schöffen Kenntnis über diese Grundsätze des Strafprozesses haben.

Der Urlaub des Schöffen lässt in der Berichterstattung die katastrophale Vorbereitung der Hauptverhandlung durch den Vorsitzenden in den Hintergrund treten. Dass die als Zeugen zu vernehmenden Eltern nur Arabisch sprechen und eine Angeklagte Spanisch spricht, musste sich aus der Verfahrensakte ergeben. Die Eltern sind mit Sicherheit schon im Ermittlungsverfahren angehört oder vernommen worden, sodass sich die Ladung eines Dolmetschers aufdrängen musste. Auch der nur Spanisch sprechenden Angeklagten ist mit Sicherheit rechtliches Gehör gegeben worden, das in spanischer Sprache geführt wurde. Und gegen die Weigerung eines Gutachters, vor Gericht zu erscheinen, sieht § 77 StPO die Auferlegung der Kosten und ein Ordnungsgeld vor. Aber man hatte ja den Schöffen, der an allem die Schuld trug. Dabei gibt es nach allen Anzeichen, die die Presse zu berichten wusste, nur einen Verantwortlichen: den für das Verfahren Verantwortlichen.


Zitiervorschlag: Hasso Lieber, Der Urlaub eines Schöffen – und was die Medien daraus machen, in: LAIKOS Journal Online 1 (2023) Ausg. 1, S. 25-26.

  1. Marc Herwig/Linda Henrich (dpa); www.stern.de vom 28.4.2023 [Abruf: 7.5.2023].[]
  2. Bianca Weiner, BILD vom 28.4.2023 [Abruf: 7.5.2023].[]
  3. Prozess um Tod von Zweijährigem in Kita scheitert, Westfalen-Blatt vom 28.4.2023 [Abruf: 7.5.2023].[]
  4. Maya Graef, Prozess um ersticktes Kita-Kind in Gelsenkirchen muss verschoben werden, WDR vom 28.4.2023 [Abruf: 7.5.2023].[]
  5. Radio Emscher Lippe vom 28.4.2023 [Abruf: 7.5.2023].[]

Über die Autoren

  • Hasso Lieber

    Geschäftsführender Gesellschafter PariJus gGmbH, Rechtsanwalt, Staatssekretär a. D., Generalsekretär European Network of Associations of Lay Judges, 1993–2017 Vorsitzender Bundesverband ehrenamtlicher Richterinnen und Richter e. V., 1989–2022, Heft 1 Redaktionsleitung „Richter ohne Robe“

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