Die anstehende Änderung des deutschen Arbeitszeitgesetzes als später Umsetzungsakt von Unionsrecht
Von Prof. Franz Josef Düwell, Vorsitzender Richter am Bundesarbeitsgericht a. D.
Abstract
Nach der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts zur elektronischen Erfassung der Arbeitszeit durch den Arbeitgeber hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales einen Referentenentwurf mit Änderungen zum Arbeitszeitgesetz zur Umsetzung der europäischen Arbeitszeitrichtlinie vorgelegt.
Following the decision of the Federal Labour Court on the electronic recording of working time by employers, the Federal Ministry of Labour and Social Affairs has presented a draft bill with amendments to the Working Time Act to implement the European Working Time Directive.
I. Die unionsrechtlichen Vorgaben
Das nationale Arbeitszeitrecht ist europarechtlich überformt. Deshalb muss der Vorrang des Unionsrechts beachtet werden. Dieser ergibt sich aus Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Danach gilt: „Jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer hat das Recht auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit …“ Zur Konkretisierung der Begrenzung dient die Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (Arbeitszeitrichtlinie).1 Art. 3 und 5 der Arbeitszeitrichtlinie verpflichten die Mitgliedstaaten der Europäischen Union dazu, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, damit jedem Arbeitnehmer gewährt wird:
- pro 24-Stunden-Zeitraum eine Mindestruhezeit von elf zusammenhängenden Stunden
- pro Siebentageszeitraum eine kontinuierliche Mindestruhezeit von 24 Stunden zuzüglich der täglichen Ruhezeit von elf Stunden.
Aus diesen Bestimmungen hat der Europäische Gerichtshof 2019 eine Pflicht für Arbeitgeber abgeleitet, „ein objektives, verlässliches und zugängliches System einzuführen, mit dem die von jedem Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann“.2
II. Die derzeitige Arbeitszeitregelung in Deutschland
In § 3 Satz 1 ArbZG ist bestimmt: „Die werktägliche Arbeitszeit der Arbeitnehmer darf acht Stunden nicht überschreiten.“ Nach § 16 Abs. 2 Satz 1 ArbZG ist der Arbeitgeber in Deutschland verpflichtet, die über die werktägliche Arbeitszeit des § 3 Satz 1 ArbZG hinausgehende Arbeitszeit der Arbeitnehmer aufzuzeichnen. Nach dem Wortlaut der Bestimmung ist also nicht die regelmäßige Arbeitszeit aufzuzeichnen, sondern nur die Mehrarbeit, die den Achtstundentag überschreitet. Eine Regelung, die nur die Mehrarbeit aufzeichnet, ist jedoch mit der Auslegung des Unionsrechts unvereinbar. Dies hat der EuGH am 14.5.2019 in einem spanischen Ausgangsfall im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens nach Art. 267 AEUV verbindlich für alle Mitgliedstaaten entschieden.
III. Die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 13.9.2022
Am 13.9.2022 musste das BAG in einem über das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats geführten Beschlussverfahren über die Rechtsfrage entscheiden, wie sich die Rechtsprechung des EuGH auf das deutsche Arbeitsrecht auswirkt. Es nahm Bezug auf die in § 3 Abs. 1 ArbSchG den Arbeitgebern auferlegte Pflicht, die erforderlichen Maßnahmen zur Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten bei der Arbeit zu treffen und für eine geeignete Organisation zu sorgen. In unionsrechtskonformer Anwendung dieser arbeitsschutzrechtlichen Bestimmung auf den im Arbeitszeitgesetz geregelten Gesundheitsschutz seien Arbeitgeber verpflichtet, Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit zu erfassen.3
Auch wenn der EuGH in seinem Urteil das nicht zum Ausdruck gebracht hat, so besteht dieses Defizit bereits seit Ablauf der Umsetzungsfrist am 24. November 1996; denn die vom EuGH angewandten Bestimmungen waren bereits in der Richtlinie 93/104/EG enthalten und bis zum 23. November 1996 in nationale Normen umzusetzen. Dieses Umsetzungsdefizit hat der Erste Senat des BAG erst am 13. September 2022 mit dem Instrument der richterlichen Rechtsfortbildung geschlossen. Damit diese Umsetzung auch im Gesetzestext lesbar ist, bedarf es einer Klarstellung im Arbeitszeitgesetz.
IV. Der Entwurf zur Änderung des Arbeitszeitgesetzes ist vorgelegt
Die Entscheidung des BAG wirkte wie ein „Paukenschlag“.4 Es wurde Bundesminister Hubertus Heil klar, dass nicht länger abgewartet werden darf. Am 18.4.2023 hat sein Ministerium den Referentenentwurf eines Gesetzes zur Änderung des Arbeitszeitgesetzes und anderer Vorschriften den Verbänden zur Stellungnahme zugesandt. Nach Verbändeanhörung und Ressortabstimmung wird das Bundesministerium für Arbeit und Soziales eine Kabinettvorlage erstellen, die dann als Gesetzentwurf der Bundesregierung zunächst in den Bundesrat zur Stellungnahme und danach zur Beschlussfassung in den Bundestag eingebracht wird. Mit dem Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens ist nicht vor der Sommerpause zu rechnen. Es besteht erheblicher Diskussionsbedarf.
V. Der wesentliche Inhalt des Referentenentwurfs im Überblick5
1. Grundsatz der elektronischen Zeiterfassung durch den Arbeitgeber
Die Neufassung des § 16 Abs. 2 ArbZG ist Kern des Entwurfs. Der Satz 1 soll wie folgt neu gefasst werden: „Der Arbeitgeber ist verpflichtet, Beginn, Ende und Dauer der täglichen Arbeitszeit der Arbeitnehmer jeweils am Tag der Arbeitsleistung elektronisch aufzuzeichnen.“ Damit wird das alte vom EuGH beanstandete System, nach dem nur Überstunden erfasst und aufgezeichnet werden, abgelöst. Um eine objektive und verlässliche Aufzeichnung zu gewährleisten, soll diese am Tag der Arbeitsleistung erfolgen.6
2. Aufbewahrungspflichten und Fristen
Nach dem geplanten § 16 Abs. 5 ArbZG hat der Arbeitgeber die Betroffenen auf Verlangen über die aufgezeichnete Arbeitszeit zu informieren und eine Kopie der Aufzeichnungen zur Verfügung zu stellen. Abs. 6 bestimmt, dass jeder Arbeitgeber verpflichtet ist, die für die Kontrolle der Einhaltung der Arbeitszeitvorschriften erforderlichen Aufzeichnungen im Inland für die gesamte Dauer der tatsächlichen Beschäftigung der Arbeitnehmer, insgesamt jedoch nicht länger als zwei Jahre in deutscher Sprache bereitzuhalten. Auf Verlangen der Aufsichtsbehörde sind die Unterlagen auch am Ort der Beschäftigung bereitzuhalten.
3. Übertragung der Aufzeichnung auf Dritte
In einem neu einzufügenden § 16 Abs. 3 ArbZG wird klargestellt, dass die Aufzeichnung der Arbeitszeit auch auf Dritte übertragen werden kann. In Betracht kommen Führungskräfte sowie die betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer selbst. Bei Leiharbeitsverhältnissen kann der Verleiher den Entleiher beauftragen.7 Trotz Übertragung bleibt jedoch der vertragliche Arbeitgeber für die ordnungsgemäße Umsetzung der Aufzeichnungspflicht verantwortlich und hat die Führung der Aufzeichnungen zu überwachen. Die zuständige Arbeitsschutzbehörde ist gehalten, dies zumindest stichprobenartig zu prüfen.8
4. Vertrauensarbeitszeit
Arbeitszeitaufzeichnung und „Vertrauensarbeitszeit“ schließen sich nicht aus. Bei der Vereinbarung einer Vertrauensarbeitszeit verzichtet der Arbeitgeber auf die Festlegung von Beginn und Ende der vertraglich vereinbarten Arbeitszeit. Er „vertraut“ dabei darauf, dass der Arbeitnehmer der vertraglichen Arbeitsverpflichtung nachkommt, ohne dieses zu überprüfen. Eine elektronische Aufzeichnung erleichtert es dem Arbeitgeber, die arbeitsschutzrechtliche Arbeitszeit aufzuzeichnen, ohne die vertragliche Arbeitszeit kontrollieren zu müssen. Dazu ist in § 16 Abs. 4 ArbZG bestimmt, dass der Arbeitgeber bei „Vertrauensarbeitszeit“ sicherstellen muss, dass ihm Verstöße gegen die Bestimmungen des Arbeitszeitgesetzes zu Dauer und Lage der Arbeits- und Ruhezeiten bekannt werden. Dies kann zum Beispiel durch automatisierte Meldungen eines elektronischen Arbeitszeiterfassungssystems erfolgen. Derartige Sicherungen hält der Entwurf für erforderlich, weil das BAG entschieden hat, der Arbeitgeber habe auch bei vereinbarter Vertrauensarbeitszeit seinen Betrieb derart zu organisieren, dass er die Einhaltung der geltenden Gesetze, Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen gewährleisten könne.9
5. Öffnungsklausel für die Tarifverträge
In dem geplanten § 16 Abs. 7 ArbZG werden Ausnahmen von der elektronischen Form der Aufzeichnung zugelassen. Die Zulassung der nichtelektronischen Form muss in einem Tarifvertrag oder auf Grund eines Tarifvertrags in einer Betriebs- oder Dienstvereinbarung erfolgen. In gleicher Weise kann zugelassen werden, dass die Aufzeichnung abweichend von § 16 Abs. 2 Satz 1 an einem anderen Tag erfolgen kann, spätestens aber bis zum Ablauf des siebten auf den Tag der Arbeitsleistung folgenden Kalendertags.
Ferner ist in § 16 Abs. 7 Nr. 3 bestimmt, dass tarifvertraglich oder durch Betriebs- bzw. Dienstvereinbarung geregelt werden kann, dass die Pflicht zur tagesgenauen elektronischen Aufzeichnung nicht bei Arbeitnehmern gilt, bei denen die gesamte Arbeitszeit wegen der besonderen Merkmale der ausgeübten Tätigkeit nicht gemessen oder nicht im Voraus festgelegt wird oder von den Arbeitnehmern selbst festgelegt werden kann.
6. Übergangsfristen und Ausnahmen
In dem geplanten § 16 Abs. 8 ArbZG werden Ausnahmen und Übergangsfristen geregelt. Generell können Arbeitgeber bis zu einem Jahr nach Inkrafttreten des Gesetzes die Arbeitszeit nicht elektronisch, also zum Beispiel handschriftlich aufzeichnen.10 Für Arbeitgeber mit weniger als 250 Arbeitnehmern beträgt die Übergangsfrist zwei Jahre, für Arbeitgeber mit weniger als 50 Arbeitnehmern fünf Jahre. Abweichend von § 16 Abs. 2 Satz 1 kann ein Arbeitgeber mit bis zu zehn Arbeitnehmern weiterhin die Arbeitszeit in nichtelektronischer Form aufzeichnen; dies gilt entsprechend auch für einen Arbeitgeber ohne Betriebsstätte im Inland, wenn er bis zu zehn Arbeitnehmer nach Deutschland entsendet. Bei Hausangestellten in einem Privathaushalt kann ebenfalls die Arbeitszeit in nichtelektronischer Form aufgezeichnet werden.11
7. Ahndung von Verstößen mit Bußgeld
Der bereits in § 22 Abs. 1 ArbZG enthaltene Katalog von Ordnungswidrigkeiten, die mit einem Bußgeld geahndet werden können, soll erweitert werden. Ordnungswidrig handelt danach auch, wer als Arbeitgeber entgegen
- § 16 Abs. 2 Aufzeichnungen nicht oder nicht richtig, nicht vollständig, nicht in der vorgeschriebenen Weise oder nicht rechtzeitig erstellt oder nicht, nicht vollständig oder nicht mindestens zwei Jahre aufbewahrt oder entgegen § 16 Abs. 6 Aufzeichnungen nicht, nicht vollständig oder nicht für die vorgeschriebene Dauer bereithält (neuer Wortlaut der Nummer 9),
- § 16 Abs. 5 nicht über die aufgezeichnete Arbeitszeit informiert oder keine Kopie zur Verfügung stellt (Wortlaut der neuen Nummer 10).
Die Ordnungswidrigkeit kann nach § 22 Abs. 2 ArbZG mit einer Geldbuße bis zu 30.000 Euro geahndet werden.
Zitiervorschlag: Franz Josef Düwell, Die anstehende Änderung des deutschen Arbeitszeitgesetzes als später Umsetzungsakt von Unionsrecht, in: LAIKOS Journal Online 1 (2023) Ausg. 1, S. 27-29.
Referentenentwurf des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, Stand 18.4.2023: Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Arbeitszeitgesetzes und anderer Vorschriften [Abruf: 7.5.2023]
- ABl. L 299 vom 18.11.2003, S. 9.[↩]
- EuGH 14.5.2019 – C-55/18 – EzA Richtlinie 2003/88 EG-Vertrag 1999 Nr. 27; siehe auch von Roetteken, jurisPR-ArbR 23/2019 Anm. 1 und Kohte, ArbuR 2019, S. 402.[↩]
- BAG 13.9.2022 – 1 ABR 22/21, BRuR 2023, S. 73.[↩]
- Gravenhorst, jurisPR-ArbR 50/2022 Anm. 1.[↩]
- Ausführliche Darstellung: Düwell, jurisPR-ArbR 17/2023 Anm. 1.[↩]
- Referentenentwurf, Bearbeitungsstand: 18.4.2023 8:30, S. 12.[↩]
- Referentenentwurf, Bearbeitungsstand: 18.4.2023 8:30, S. 12. [↩]
- Referentenentwurf, Bearbeitungsstand: 18.4.2023 8:30, S. 13.[↩]
- BAG 6.5.2003 – 1 ABR 13/02, BeckRS 2003, EzA § 80 BetrVG 2001 Nr. 2, Kohte, jurisPR-ArbR 25/2003 Anm. 1.[↩]
- Referentenentwurf, Bearbeitungsstand: 18.4.2023 8:30, S. 15.[↩]
- Referentenentwurf, Bearbeitungsstand: 18.4.2023 8:30, S. 15. [↩]