M. Sacher: Die Hauptverhandlung als Forum der Wahrheit
Mariana Sacher: Die Hauptverhandlung als Forum der Wahrheit. Eine Analyse mit Blick auf die Strafprozessreformen von Argentinien und Mexiko. Berlin: Duncker & Humblot 2022. 441 S. (Strafrechtliche Abhandlungen; N. F., Bd. 305) Print-Ausg.: ISBN 978-3-428-18438-5, € 109,90; E-Book: € 109,90
Die Habilitationsschrift erweist sich als Fundamentalkritik an einem Institut des geltenden Strafprozessrechts. Dessen Regelungen zur „Verständigung“ bezeichnet die Autorin als lediglich humanere Form der im mittelalterlichen Inquisitionsverfahren (lat. inquisitio = Befragung, Untersuchung) zur Geständniserzwingung verwendeten Folter. Beide stimmten darin überein, dass „das Geständnis des Angeklagten mithilfe der Drohung mit einer überschweren Strafe oder dem Versprechen eines unangemessen großen Strafrabattes erzwungen werden soll“. Mit der Erhebung des Geständnisses zur regina probationum (Königin der Beweise) hätten die Verfahrensreformen der letzten Jahrzehnte den Prozess wieder dorthin zurückgeführt, wo er vor 200 Jahren gestanden habe.
Der Feststellung geht eine umfangreiche rechtshistorische Darstellung zur Wahrheitsfindung im Strafprozess voraus von den „irrationalen“ Beweismitteln wie Reinigungseid oder Gottesurteil zu den „rationalen“ des Geständnisses und des Zeugenbeweises sowie zum liberalen Strafverfahren, das im 19. Jahrhundert in Europa zur Einführung der (öffentlichen) Hauptverhandlung als dem eigentlichen Entscheidungszentrum führte. Die unmittelbare Kenntnisnahme (Inaugenscheinnahme) der Beweismittel durch das Gericht sowie die Mitwirkung des Angeklagten an der Beweisaufnahme mit eigenen Verteidigungsrechten, dem Verbot der Ausübung physischen bzw. psychischen Zwangs und die Einbeziehung von Alternativhypothesen auch in Bezug auf ein Geständnis des Angeklagten sollten der Feststellung der materiellen (prozessualen) Wahrheit dienen. Zwei Grundmodelle stehen sich dabei im heutigen Strafprozess gegenüber: der inquisitorische Prozess, der von der Ermittlung der Wahrheit durch das Gericht von Amts wegen geprägt ist (kontinental-europäisches Modell), und der adversatorische, bei dem die Parteien „Ankläger“ und „Verteidigung“ ihre Beweismittel dem Gericht präsentieren und durch gegenseitige Prüfung (Kreuzverhör) dem Gericht zur Beurteilung stellen (anglo-amerikanisches System).
Mit den so herausgearbeiteten Kriterien analysiert die Autorin die Entwicklung des Strafprozessrechts in süd- und mittelamerikanischen Staaten, die sich unterschiedlich und teilweise widersprüchlich dem einen oder anderen System zuwenden, dabei aber auch einen Ausgleich der jeweiligen Nachteile suchen. Das gibt ihr Gelegenheit, diese Nachteile auch in Bezug auf das deutsche Strafprozessrecht zu untersuchen und Schwachstellen aufzudecken. Dazu gehören die Prägung des Verfahrens durch die Ermittlungsakte aus polizeilicher Sicht, die Auswirkung auf das Gericht durch den von ihm selbst gefassten Eröffnungsbeschluss aufgrund der Aktenlage sowie dessen Fernwirkung auf das weitere Verfahren, die Rolle der (neutralen) Staatsanwaltschaft, die naturgemäß als Strafverfolgungsbehörde den eher belastenden Blick auf das Verfahren hat, und die Übernahme von (eigentlich systemfremden) Elementen aus dem jeweils anderen Verfahren, in Bezug auf Deutschland eben die Verständigung. Die von der Autorin gewählte Methode einer Analyse fremder Entwicklungen mit der Projektion auf das eigene System und dessen Veränderung in den letzten Jahrzehnten schärft den Blick auf Umstände, die im rechtpolitischen Klein-Klein parlamentarischer Alltagsdebatten häufig untergehen. Das legitimiert die eingangs behauptete Ähnlichkeit von Folter und Verständigung, die für sich genommen hart bis absurd klingt, im historischen wie analytischen Kontext jedoch Strukturprobleme des heutigen Strafprozesses wie im Brennglas deutlich macht. Die Kompensation des Mangels an objektiven Beweismitteln im mittelalterlichen Inquisitionsprozess durch das aufgrund Folter erzwungene Geständnis entspricht der heutigen Kompensation der durch den Drang nach Ökonomisierung der Beweisaufnahme erzwungenen Droh- bzw. Versprechens-Situation beim „Deal“. Der Autorin gelingt durch die historische, systematische und internationale Beleuchtung die Verdeutlichung sowohl der Defizite aktueller Rechtspolitik wie justizieller Praxis. (hl)
Zitiervorschlag: Hasso Lieber, M. Sacher: Die Hauptverhandlung als Forum der Wahrheit [Rezension], in: LAIKOS Journal Online 1 (2023) Ausg. 1, S. 42.