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Analyse der Schöffenwahl 2023 anhand einer repräsentativen Umfrage

Von Hasso Lieber, Rechtsanwalt, PariJus

Abstract
Der Artikel wertet verschiedene Aspekte der Schöffenwahl 2023 aus, beginnend mit den Ergebnissen einer Umfrage zur Erstellung der Vorschlagslisten durch die Kommunen. Daraus werden Schlussfolgerungen zu den Verwaltungsvorschriften der Landesverwaltungen dahingehend gezogen, inwieweit sie sachgerechte Vorgaben zur Durchführung der Schöffenwahl enthalten. Die Mobilisierung von Bewerbern hängt maßgeblich von einer qualitativen Information der Bevölkerung ab; dazu wird die Wirksamkeit der Öffentlichkeitsarbeit in den verschiedenen Medien analysiert. Schließlich werden notwendige Veränderungen in der Arbeit aller an dem Wahlvorgang Beteiligten eingefordert.

The article evaluates various aspects of the 2023 election of lay judges, starting with the results of a survey on the preparation of the lists of proposals by the municipalities. From this, conclusions are drawn about the administrative regulations of the state administrations regarding the extent to which they contain appropriate guidelines for the implementation of the election of lay judges. The mobilisation of candidates depends largely on the provision of high-quality information to citizens; to this end, the effectiveness of public relations work in the various media is analysed. Finally, necessary changes are called for in the work of all those involved in the electoral process.

Die Schöffenwahl 2023 zeichnete sich durch einige untypische Merkmale im Vergleich zu den Wahlen der letzten beiden Jahrzehnte aus, wie etwa regionale Massenbewerbungen zum allgemeinen Schöffenamt. In der Vergangenheit hatten die Kommunen in aller Regel wenig Schwierigkeiten, die Zahl von Bewerbern für den tatsächlichen Bedarf an Schöffen zu mobilisieren. Insbesondere größere Städte hatten jedoch Mühe, der Vorgabe in § 36 Abs. 4 GVG Rechnung zu tragen, in die Vorschlagsliste „mindestens“ doppelt so viele Bewerber zu wählen, wie an Schöffen benötigt werden. Im Laufe der Wahl 2023 meldete sich in Großstädten oft mehr als die erforderliche (doppelte) Bewerberzahl – in einzelnen Mittelstädten bis zum Fünffachen. PariJus hat nach der Wahl eine Umfrage bei kommunalen Verwaltungen über die Aufstellung der Vorschlagslisten durch die Gemeindevertretungen und Jugendhilfeausschüsse durchgeführt.
Seit Jahren wird vor rechtsextremistischen, verfassungsfeindlichen Bewerbern gewarnt. Wahlerfolge der AfD, Reichsbürger, Verschwörungstheoretiker, Corona-Leugner und ähnliche Gruppierungen gaben Anlass, in staatlichen und kommunalen Verlautbarungen ebenso wie in Medien und zivilgesellschaftlichen Initiativen nahezu stereotyp auf eine (mögliche) Infiltration durch Demokratiefeinde hinzuweisen. In der Regel fehlten diesen Warnungen Erläuterungen, wie der beschworenen Unterwanderung begegnet werden kann. Die Analyse wird sich daher insbesondere mit Umfang und Qualität der Vorbereitung und Durchführung der Wahl durch Gremien und Verantwortliche befassen. Dabei werden auch die Anleitungen durch Verwaltungsvorschriften in den Fokus genommen. Besonderes Augenmerk richtet sich auf eine umfassende und realistische Information der Öffentlichkeit durch Kommunen und gesellschaftliche Organisationen über die Anforderungen an die Bewerber. Dazu gehört auch die starke Fokussierung auf das Merkmal „jung“ sowie die Marginalisierung des Amtes in der medialen Darstellung. Die Zusammenschau aller Daten liefert Material zur Diskussion über eine Reform der Schöffenwahl.

a. Die Schöffenwahlen sind eine durch Bundesrecht (GVG/JGG) den Kommunen übertragene Pflichtaufgabe, deren organisatorische Durchführung in der Zuständigkeit der einzelnen Länder liegt. Die Aufstellung der Vorschlagsliste, die Elemente von Beschluss und Wahl verbindet, die Wahl der sieben Vertrauenspersonen sowie deren Letztentscheidung im Schöffenwahlausschuss liegen in kommunaler Verantwortung.1 Von der Wahl der Schöffen in allgemeinen Strafsachen sind alle 10.786 Gemeinden in Deutschland betroffen.2 Jede muss eine Vorschlagsliste für Schöffen aufstellen, auch wenn in Gemeindeverbänden (Amt, Verbandsgemeinde, Verwaltungsgemeinschaft) deren Verwaltung die vorbereitenden Tätigkeiten übernimmt. Nur in Niedersachsen sind die Samtgemeinden anstelle ihrer Mitgliedsgemeinden vorschlagsberechtigt. Die Vorschlagslisten für die Jugendschöffen werden von den Jugendhilfeausschüssen in (Land-)Kreisen, kreisfreien und großen kreisangehörigen Städten aufgestellt.

b. PariJus hat nach der Wahl eine repräsentative Umfrage bei Gemeindeverwaltungen und Jugendämtern durchgeführt. 107 Verwaltungen von Gemeinden, Gemeinde- und Verwaltungsverbänden (mit insgesamt 397 Gemeinden und Kreisen) übermittelten Daten zur Aufstellung der Vorschlagslisten aus insgesamt 417 Gemeinden. Die Verwaltungen der Gemeindeverbände teilten weitgehend nur die Zusammenfassung der auf alle angehörigen Gemeinden entfallenden Zahlen der Bewerber und in die Liste aufzunehmenden Personen mit, berichteten aber auch, ob Gemeinden im Soll geblieben waren bzw. dieses über- oder unterschritten haben. Da die Antworten im Umfang der in Bezug genommenen Gemeinden unterschiedlich waren, werden die zusammenfassenden Vergleiche auf der Ebene der Verwaltungseinheiten getroffen, die Verwaltungsverbände insoweit den Gemeinden und Gemeindeverbänden gegenübergestellt. Besondere Vorgänge in den Ortsgemeinden werden im Einzelnen dargestellt.
28 Verwaltungseinheiten haben bis zu 10.000 Einwohner, 51 bis zu 50.000, 11 bis zu 100.000, 13 bis zu 500.000 und vier über 500.000 Einwohner. Von den 107 Verwaltungen berichteten 18 zu den Wahlen von Schöffen und Jugendschöffen, fünf (Land-)Kreise mit einem Jugendamt über die Aufstellung der Vorschlagsliste im Jugendhilfeausschuss.

c. Die Befragung bezog sich auf folgende Punkte:

  • Wurden von der Gemeindevertretung/dem Jugendhilfeausschuss Personen wegen nicht verfassungskonformer Bestrebungen abgelehnt?
  • Wie viele Vorschläge für das Schöffenamt/Jugendschöffenamt entfielen auf Ihre Gemeinde/Ihren Jugendhilfeausschuss nach den Vorgaben der Justiz?
  • Handelte es sich bei der Vorgabe der Justiz bereits um die verdoppelte Zahl der erforderlichen Schöffen? Wurden Sie aufgefordert, diese Zahl nicht zu überschreiten?
  • Wie viele Bewerber haben sich gemeldet?
  • Wie viele Personen wurden in die Vorschlagsliste aufgenommen?
  • Gab es kontroverse Diskussionen in der Gemeindevertretung/im Jugendhilfeausschuss oder wurde die von der Verwaltung vorgelegte Beschlussvorlage einstimmig akzeptiert?

b. Zu Über- oder Unterschreitungen der vorgegebenen Zahl gab es nach den Berichten nur in wenigen Fällen Reaktionen der zuständigen Amtsrichter; nicht alle zeigten sich hinreichend auf die Aufgabe vorbereitet. So hatte eine hessische Gemeinde statt vorgegebener 5 Vorschläge 6 Personen in die Vorschlagsliste aufgenommen. Die Vorsitzende des Schöffenwahlausschusses forderte die Vertretung unter Hinweis auf § 36 Abs. 4 Satz 2 GVG zu einem erneuten Beschluss mit 5 Vorschlägen auf. Satz 1 der Vorschrift, in die Vorschlagslisten mindestens das Doppelte der erforderlichen Zahl von Schöffen aufzunehmen, wurde ebenso übersehen wie § 39 GVG, wonach sich die Prüfungskompetenz der Vorsitzenden auf die öffentliche Auflegung der Vorschlagsliste, deren Bekanntmachung sowie etwaige Mängel beschränkt (z. B. die willkürlich oder unter Verzicht auf eine eigene Entscheidung beschlossene Übernahme der Vorschlagsliste oder der fehlende Nachweis der erforderlichen Mehrheit des Beschlusses). Der o. g. Gemeinde bei dieser marginalen, vom Gesetz gedeckten Abweichung „bewusste und gewollte Abkehr von den verbindlichen Vorgaben des zuständigen Landgerichts“ vorzuwerfen, stimmt sowohl hinsichtlich der Kenntnisse vom Verfahren wie zur Abgrenzung der Staatsgewalten nachdenklich.4 In zwei weiteren Fällen wurde sogar berichtet, die Justiz habe die in die Vorschlagsliste aufzunehmende Zahl als „das Dreifache“ der benötigten Schöffen bezeichnet.

a. Tabelle 1 gibt – dem Ablauf der Wahl folgend – in Nr. 1 die in die Vorschlagslisten aufzunehmende Zahl an Bewerbern wieder, die mindestens das Doppelte des von der Justiz errechneten erforderlichen Bedarfs an Schöffen beträgt (= 3.765 Schöffen und 1.513 Jugendschöffen). Nr. 2 stellt die Gesamtzahl der Bewerber dar. Nr. 3 enthält die Summe der von Gemeindevertretung bzw. Jugendhilfeausschuss in die Vorschlagsliste zur Wahl aufgenommenen Personen.

Tabelle 1  Quelle: eigene Umfrage

b. Die in die Vorschlagslisten für das allgemeine Schöffenamt aufgenommene Zahl von Bewerbern (10.509) stellt im Vergleich zu 3.765 erforderlichen Schöffen damit nicht das gesetzliche Doppelte, sondern fast das Dreifache (279,1 %) dar. Der Umfrage zufolge haben die meisten kommunalen Organe im Wesentlichen nur Bewerber unberücksichtigt gelassen, die nach Alter, Wohnort oder Beruf nicht in Betracht kamen, nach dem Gesetzeswortlaut also „ungeeignet“ waren. Das mag für manche Gemeinde von der Vorgabe, mindestens die doppelte Zahl vorzuschlagen, umfasst sein. Wenn die Vertretungen jedoch über die gesetzlichen Förmlichkeiten hinaus zur Eignung der Kandidaten für das Amt keine Entscheidung treffen und sämtliche formal wählbaren Bewerber weiterleiten, bedeutet das für den Schöffenwahlausschuss über die bloße Zahl hinaus erhöhte Anstrengungen bei der Sichtung der Vorschlagslisten hinsichtlich der Eignung. Eine qualifizierte Auswahl ist für die neun Mitglieder des Ausschusses mangels Kenntnis der Bewerber ohnehin kaum möglich, wird aber so zur unlösbaren Aufgabe. Berücksichtigt man, mit welchem Aufwand in medialen wie politischen Verlautbarungen der Kampf gegen rechtsextreme Mobilisierung beschworen wurde, haben die Gemeindevertretungen in weiten Bereichen insoweit ihre Aufgabe nicht erfüllt. Die Aufgabenverteilung der zweistufigen Schöffenwahl hat sich 1950 der Gesetzgeber so vorgestellt, dass die Gemeinden ihre Entscheidung unter qualitativen Gesichtspunkten treffen,5 der Schöffenwahlausschuss hingegen stärker auf die Repräsentation der Gruppierungen in der Bevölkerung achtet. Bei einer bloß statistischen Verteilung nach Geschlecht, Alter und sozialer Stellung bleibt für die individuelle Betrachtung geeigneter Personen unter dem Gesichtspunkt der Verfassungstreue kein Raum.

Bei den Vorschlagslisten für das Jugendschöffenamt sieht die Situation besser aus. Zwar wurden auch hier deutlich mehr Bewerber in die Vorschlagslisten aufgenommen als das Doppelte der erforderlichen Jugendschöffen. Deren Zahl wird aber lediglich um ein knappes Viertel (24,2 %) überschritten. Dafür lassen sich seit langem zwei Gründe festmachen: zum einen die Beteiligung der im Jugendhilfeausschuss vertretenen Organisationen der Jugendhilfe, zum anderen die Voraussetzung der Erfahrung in Jugendarbeit und Jugenderziehung für die Übernahme des Amtes. Diese Bewerber fühlen sich nicht durch „platte“ Werbeslogans wie „Wir brauchen Dich“ oder „Ich will die Stimme der Menschen vor Gericht sein“ angesprochen.

c. Insgesamt lassen sich aus der Liste 18 kommunale Verwaltungseinheiten herausfiltern, die die Vorgabe der Justiz exakt erfüllen konnten. Darunter befinden sich Gemeinden unterschiedlichen Typs. Bei der Bodensee-Gemeinde, für deren 2 zugeteilte Personen 24 Bewerbungen eingingen, wählte die Vertretung in mehreren Wahlgängen die beiden Bewerber mit der erforderlichen Mehrheit in die Liste. Eine hessische Mittelstadt filterte 61 Vorschläge für die Liste aus 151 Bewerbungen.
Die Auswahl muss nicht immer kompliziert sein. Einige Gemeinden mit größeren Bewerberzahlen führten zunächst einen ersten Wahlgang durch, in dem jeder Stimmberechtigte so viele Stimmen hatte, wie an zu wählenden Personen von der Justiz vorgegeben waren. Wer die Zwei-Drittel-Mehrheit erreichte, war gewählt. Die übrigen Bewerber bildeten eine Reihenfolge nach der Zahl der auf sie entfallenden Stimmen bis zu der laufenden Nummer, die der vorgegebenen Zahl entsprach – abzüglich der bereits gewählten Personen. Diese Liste wurde in der zweiten Abstimmung mit Zwei-Drittel-Mehrheit beschlossen. Vor der Abstimmung konnten gegen einzelne Personen noch Einwände geltend gemacht werden. Eine sächsische Stadt im Landkreis Leipzig wählte so aus 45 Bewerbern die erforderlichen 14 Personen auf die Vorschlagsliste.

d. 22 Gemeinden bzw. Gemeindeverbände haben das ihnen gestellte Soll nicht erreicht, wobei es sich vorwiegend um kleinere Kommunen handelte. Diese reagierten unterschiedlich: Die fünf Ortsgemeinden einer Verbandsgemeinde in Rheinland-Pfalz konnten statt 28 insgesamt nur 23 Bewerber auf ihre Vorschlagslisten nehmen. In einer anderen Verbandsgemeinde gingen in einigen kleineren Gemeinden keine Bewerbungen ein; die anderen Gemeinden mit mehr Bewerbern als erforderlich hielten sich an die ihnen gemachten Vorgaben, sodass trotz insgesamt 84 Bewerbern für 58 den Gemeinden zur Verfügung stehende Plätze in der Addition aller Gemeinden nur 48 Bewerber gewählt wurden. Andere Gemeindeverbände kompensierten fehlende Vorschläge kleinerer Gemeinden, indem andere Gemeinden eine größere Zahl von Bewerbern aufnahmen. In einem Brandenburger Amt mit sechs amtsangehörigen Gemeinden, auf die insgesamt 4 Vorschläge entfielen, wurden fehlende Bewerbungen aus vier Ortsgemeinden von zwei größeren Gemeinden ausgeglichen. Inwieweit in kleinen ländlichen Gemeinden strukturelle Gründe eine Rolle spielen, etwa schlechte Verkehrsverbindungen oder mangelnde Information über die Schöffenwahl, muss gesonderter Forschung überlassen bleiben.

e. Herausragendes Problem der Wahl 2023 war die mangelnde Bereitschaft einer großen Zahl von Gemeinden, zum Teil hohe Bewerberzahlen über dem Soll auch nur annähernd auf das vorgegebene Maß zu reduzieren. Verschiedentlich wurde berichtet, dass die Verwaltung – teils mit der o. g. Methode eines ersten Wahlganges zur Bildung einer Reihenfolge – darauf gedrungen hatte, die Vorgabe der Justiz zu erfüllen. Die jeweilige Gemeindevertretung lehnte aber eine Reduzierung der Bewerber ab, teils mit der unzutreffenden Begründung, dass nur der Schöffenwahlausschuss diese Kompetenz besitze, teils offenkundig aus Gründen mangelnder Zivilcourage gegenüber ihren Wählern. Hier müssen insbesondere die Landesverwaltungen künftig präventive Maßnahmen ergreifen, um dem Grundanliegen der Aufstellung der Vorschlagslisten Rechnung zu tragen, aufgrund örtlicher Kenntnisse eine größtmögliche Gewähr für die Eignung der Bewerber sicherzustellen. Gemeinden wie eine württembergische Mittelstadt, die bei Vorgabe von 25 Personen und 62 Bewerbern eine Vorschlagsliste mit 27 Personen beschloss, darf man noch zu denen zählen, die die Arbeit des Schöffenwahlausschusses im Blick hatten. Auch die südwestdeutsche Stadt mit einer Vorgabe von 454 Personen überschritt diese mit 465 in die Vorschlagsliste aufgenommenen Personen im Verhältnis nur minimal, wobei sich allerdings nur 485 Personen beworben hatten. Großen Andrang verzeichnete hingegen die schwäbische Gemeinde, die für 31 vorgegebene Personen 110 Bewerbungen erhielt. Die Gemeindevertretung setzte mit 39 Personen im Rahmen der gesetzlichen Vorgabe „mindestens“ nur geringfügig mehr als das Soll auf die Liste.

Tabellenführer in der Überschreitung der Vorgabe ist die Verwaltungseinheit, auf deren zugeteilte 1.040 Plätze in der Vorschlagsliste 1.647 Bewerbungen eingingen, die komplett an den Schöffenwahlausschuss „durchgewunken“ wurden – ein Plus von 607 (= 58,4 %), also statt des Doppelten an Vorschlägen mehr als das Dreifache. Das Gleiche gilt für eine norddeutsche Stadt, die statt 822 vorgegebener Personen alle 1.253 (+431) Bewerber auf die Vorschlagsliste setzte. Dem wollte eine baden-württembergische Großstadt nicht nachstehen, die für zwei Amtsgerichte in ihrem Bereich einmal 246 und zum anderen 49 Personen in die Liste aufnehmen sollte. Für beide Vorschlagslisten bewarben sich zusammen über 1.000 Personen. Nach Rücksprache sowohl mit dem Land- als auch den beiden Amtsgerichten, in denen der Kommune bestätigt wurde, dass eine „übervolle“ Vorschlagsliste keine negativen Auswirkungen habe, nahm die Gemeindevertretung statt der 246 Personen 707 und statt 49 Personen 169 Bewerber in die jeweilige Vorschlagsliste auf. Großzügig in der Überschreitung der Vorgaben war auch eine Großstadt in Sachsen, die bei einer Vorgabe von 600 Personen von 838 Bewerbern lediglich 5, die die gesetzlichen Vorgaben nicht erfüllten, nicht auf die Liste nahm und die verbliebenen 833 an den Wahlausschuss weiterreichte. Noch einfacher kann man politisch wie charakterlich zweifelhaften Bewerbern den Zugang zum Amt kaum ermöglichen. Bemerkenswert im sächsischen Fall ist zudem, dass sich in dieser Stadt als Jugendschöffen bei benötigten 328 nur 346 Bewerber fanden.

f. Zu den Auswirkungen einer solchen Missachtung der kommunalen Aufgabe in der Schöffenwahl gibt die Schilderung einer erfolglosen Bewerberin aus einer bayerischen Großstadt einen Einblick. Die Fokussierung auf organisierte Verfassungsfeinde oder deren Sympathisanten verstellt den Blick darauf, dass auch bei politisch nicht lokalisierbaren Personen Einstellungen vorhanden sein können, die mit dem Gebot von Neutralität, Unvoreingenommenheit und Respekt im richterlichen Ehrenamt nicht konform gehen. Die Bewerberin gab sich bei ihrem Kontakt zu PariJus als FDP-Mitglied zu erkennen. Sie schilderte nach der Mitteilung, nicht gewählt worden zu sein, ihre persönliche (hier leicht gekürzte) Erfahrung: „Kürzlich kam ich beim Lokal […] vorbei – bereits tagsüber ein Treffpunkt für Alkoholiker. Zwei offensichtlich neue Schöffen feierten um 11 Uhr ihre Ernennung (die sie den Anwesenden wie den Passanten ungefragt ‚unter die Nase rieben‘). Als ich die beiden Herren auf ihre Einstellung hin ansprach, stellte sich schnell heraus, dass sie vor allem deutsche Opfer schützen und fremdländische Täter hart bestrafen wollen, weiterhin für die Umwandlung von Geldstrafen in Haft sind, über gewisse Deals im Vorfeld wenig wissen, ebenso wie um die erschwerten Bedingungen für Gerichtsreporter (‚Wir glauben keiner offiziellen Presse’). Einer meinte, er könne ja dann alles in den Akten lesen. Als ich ihm eröffnete, dass seine Konzentration für die Verhandlung selbst gefragt sei, unbefangen und unbeeinflusst von den Ermittlungen im Vorfeld, sah er mich ungläubig an.“

a. Die Gruppe der Verwaltungseinheiten bis 10.000 Einwohner umfasst 16 Gemeinden und 12 Gemeindeverbände mit 121 angehörenden Gemeinden. Nur in fünf dieser Verwaltungseinheiten wurde die vorgegebene Zahl der Vorschläge nicht erreicht. Die höchsten Abweichungen lagen bei -7 von 15 möglichen Vorschlägen (-47,7 %) in einer Gemeinde mit 6.000 Einwohnern und -6 von 34 Vorschlägen (-17,6 %) in einer Gemeinde mit 9.000 Einwohnern. Eine weitere Abweichung lag mit 4 Vorschlägen von 8 möglichen zwar bei 50 %; die Angabe von 10 Bewerbungen, von denen 6 nicht berücksichtigt wurden, lässt vermuten, dass die Frage nach der Verdoppelung missverstanden wurde.
In neun Gemeinden wurde die Vorgabe der Justiz exakt eingehalten. Darunter befinden sich die oben bereits erwähnte Bodensee-Gemeinde sowie weitere Gemeinden, die bei 19, 15 und 8 Bewerbern die Vorschlagslisten auf die vorgesehenen 4 bzw. 8 und 2 Vorschläge reduzierten. Die übrigen 16 Gemeinden bzw. Ämter (d. h. angehörige Gemeinden) haben – unter Überschreitung der vorgegebenen Zahlen – alle Bewerber, soweit sie nicht nach dem GVG ungeeignet waren, in die Vorschlagslisten aufgenommen. Eine nordrhein-westfälische Gemeinde nahm statt der vorgesehenen 2 alle 15 Bewerber auf; auch eine hessische Gemeinde ging mit 22 Personen auf der Vorschlagsliste um ein Mehrfaches über die Vorgabe von 6 Vorschlägen hinaus. Insgesamt nahmen die Gemeinden dieser Größe 281 Bewerber statt vorgegebener 171 (+64,3 %) in ihre Listen auf. Diese Zahl deutet bereits die Tendenz an, möglichst vor Ort keinem Bewerber absagen zu wollen. Immerhin wurde statt des Doppelten der erforderlichen Zahl an Schöffen mehr als das Dreifache vorgeschlagen.

b. Im Bereich der 51 Gemeinden und -verbände bis 50.000 Einwohner haben sechs – davon fünf Verwaltungsgemeinschaften mit insgesamt 82 angehörigen Gemeinden – die ihnen vorgegebene Zahl der Vorschläge mangels Bewerbungen nicht erreichen können (in der Summe 74 Vorschläge weniger als die geforderten 274 = -27,0 %). In vorderer Position steht die mittelsächsische Stadt, die 58 Vorschläge machen sollte und von nur 35 Bewerbern lediglich 29, die die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllten, auf die Vorschlagsliste setzen konnte. Über die Frage, warum – mit einer Ausnahme – nur in Verwaltungsgemeinschaften ein solches Defizit zu verzeichnen ist, müsste eine rechtstatsächliche Forschung untersuchen. Sieben Gemeinden hielten sich strikt an die vorgegebenen Zahlen. Von den weiteren 38 Gemeinden bewegten sich einige in vom „mindestens“ gedeckten Bereichen, die das Bemühen um eine Auswahl erkennen ließen. Problematisch waren Gemeinden, die ein Vielfaches der vorgegebenen Personenzahl auf die Vorschlagsliste nahmen. Nachfolgend eine Auswahl an besonders hohen Überschreitungen:

Beispiele für Überschreitungen Teil 1
VorgabenBewerbungenVorschlagsliste
 8 49 46
17134134
16 76 76
16 73 73
34 94 94
58125125
Tabelle 2  Quelle: eigene Umfrage

Insgesamt wurden in diesen 38 Gemeinden 1.047 Personen mehr auf die Vorschlagslisten gesetzt, als vorgegeben waren (1.430). Die dem Schöffenwahlausschuss übermittelte Zahl von Bewerbern entsprach nicht mehr dem gesetzlich vorgegebenen (mindestens) Doppelten der erforderlichen Zahl von Schöffen, sondern bereits dem Dreieinhalbfachen. Es verwundert nicht, dass im Schöffenwahlausschuss oft auf mathematische Prinzipien zurückgegriffen wird.6
Die Daten zu den Jugendschöffen in Kommunen dieser Größenordnung sind weniger aussagekräftig, da nur drei Stadt- bzw. Kreis-Jugendämter Daten mitgeteilt haben. Deren Jugendhilfeausschüsse überschritten die Vorgaben (insgesamt 137 Personen) mit 240 in die Vorschlagsliste aufgenommene Personen erheblich (+103 = 75,2 %).

c. Die 11 Gemeinden bis 100.000 Einwohner bieten ein uneinheitliches Bild. Eine Alleinstellung hat die thüringische Stadt, der die Aufnahme von 151 Personen in die Vorschlagsliste vorgegeben war. Es meldeten sich nur 121 Bewerber, die sämtlich in die Vorschlagsliste aufgenommen wurden. Konträr hierzu war die Entwicklung in einer schwäbischen Gemeinde, die 54 Personen vorschlagen sollte und alle 103 Bewerber in die Vorschlagsliste nahm. Mit der Überschreitung von 49 Personen enthielt die Vorschlagsliste damit statt des Doppelten das nahezu Vierfache der erforderlichen Zahl von Schöffen. Insgesamt ist bei 926 vorzuschlagenden Personen die Überschreitung mit 176 Interessenten „über par“ nicht sonderlich auffällig, konzentriert sich aber auf einige Gemeinden. Bemerkenswert dabei die Stadt in Baden-Württemberg, in der sich auf 84 zu vergebende Plätze 239 Bewerber meldeten, die die Gemeindevertretung auf 120 Personen in der Vorschlagsliste reduzierte.

d. Die elf Großstädte und sechs Landkreise mit einer Bevölkerung von über 100.000 Einwohnern weisen in der Umfrage ein Spektrum zwischen 106.000 und 633.000 Einwohnern auf. Hier nehmen die Überschreitungen der Vorgaben erhebliche Dimensionen an. Neben dem unter I.3.e. erwähnten „Tabellenführer“ ragen folgende Beispiele heraus:

Beispiele für Überschreitungen Teil 2
VorgabenBewerbungenVorschlagslisteDifferenz
  8221.2531.253+431 =   +52,4 %
  600  838  833+233 =   +38,8 %
  239  338  296 +99 =   +41,4 %
   90  257  257+167 = +185,6 %
Tabelle 3  Quelle: eigene Umfrage

Im Bereich nicht erfüllter Vorgaben befand sich eine einzige norddeutsche Großstadt, in der sich auf die zur Verfügung stehenden 567 Plätze für die Vorschlagsliste nur 501 Bürger bewarben, die sämtlich in die Liste aufgenommen wurden.
Spitzenreiter bei den Überschreitungen ist im Bereich der Jugendschöffen eine große süddeutsche Stadt, die insgesamt 696 Personen vorschlagen sollte. Es bewarben sich 1.127 Personen, von denen 57 wegen mangelnder Voraussetzungen nicht wählbar waren. Die verbliebenen 1.070 Personen wurden vom Jugendhilfeausschuss ohne Diskussion in die einstimmig beschlossene Vorschlagsliste aufgenommen. Ein ähnliches Bild zeigte sich in der norddeutschen Großstadt, in der 200 Bewerber aufzunehmen waren und der Jugendhilfeausschuss 353 Personen in die Liste wählte. Drei Großstädte und zwei Kreise haben das Potenzial für die Vorschlagsliste der Jugendschöffen mangels Bewerber nicht vollständig ausgeschöpft, wobei sich das Defizit in engen Grenzen hielt. Nur in einem sächsischen Landkreis und einer rheinischen Großstadt waren die Unterschreitungen mit -68 (von 200) bzw. -53 (von 292) Personen erheblich.

a. Die Berichte enthalten Anmerkungen zu 162 Beschlussfassungen in Gemeindevertretungen (auch von Ortsgemeinden) und Jugendhilfeausschüssen. In über 90 % der Fälle wurde die Verwaltungsvorlage ohne weitere Diskussion einstimmig beschlossen, selbst – oder gerade – Vorschlagslisten, die die Vorgaben der Justiz um mehrere Hundert Personen überschritten. Einige Organe haben über jeden Bewerber einzeln abgestimmt. Alle, die die notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit erhalten haben, waren gewählt. So hatten sich in einer Stadt, deren Vorschlagsliste 21 Bewerber enthalten sollte, 68 Personen gemeldet. In der Einzelabstimmung erhielten 17 Personen keine Mehrheit. Die anderen 51 waren mit der erforderlichen Mehrheit gewählt. Offenbar hatten alle Gemeindevertreter nicht 21 Stimmen, sondern bis zu 68. Über die Mühen, die mit der Umsetzung der Vorgabe der Justiz verbunden waren, berichtete eine schwäbische Gemeinde. Bei 54 Bewerbern seien drei Wahlgänge erforderlich gewesen, um 24 Personen mit der notwendigen Zwei-Drittel-Mehrheit zu wählen.

b. Mehrfach enthielten die Berichte Hinweise, wonach von der Verwaltung vorgetragene Bedenken gegen einzelne Bewerber von der Vertretung ignoriert wurden. Die jeweilige Liste wurde trotzdem – häufig einstimmig – beschlossen. In einem Fall hatte die Verwaltung darauf hingewiesen, dass bei 28 Bewerbern Gründe einer Ungeeignetheit nach §§ 33, 34 GVG vorliegen (z. B. ein Religionsdiener). Diese Personen wurden von der Vertretung in die Vorschlagsliste aufgenommen und erst im Schöffenwahlausschuss nicht gewählt. Bezeichnend war eine Bemerkung: „Es fand eine Wahl im Gemeinderat statt, daher keine Diskussion.“ Diese wurde in einigen Gemeinden offenbar außerhalb der Gemeindevertretung geführt. So wurde berichtet, dass bei 51 Bewerbern eine Beschlussvorlage mit 17 Personen einstimmig „nach Vorauswahl durch die einzelnen Fraktionen“ von der Gemeindevertretung beschlossen worden sei. Hier könnte es bei einer konsequenten Strafverteidigung in größeren Verfahren Schwierigkeiten mit der Gültigkeit der Vorschlagsliste geben.7 Nachvollziehbar ist die abweichende Meinung der Vertretung gegenüber der Verwaltung einer Gemeinde in Baden-Württemberg. Die Verwaltungsspitze wollte in der Vorlage für den Gemeinderat keine aktuellen Amtsinhaber aufnehmen, um anderen Bürgern die Chance auf ein Schöffenamt zu geben. Dies wurde von der Gemeindevertretung abgelehnt. Die aktuellen Schöffen (soweit sie sich wieder beworben hatten) wurden in die Vorschlagsliste aufgenommen.

c. Die Ergebnisse der Umfrage korrespondieren mit lokalen Veröffentlichungen. Nur auszugsweise hier einige Ergebnisse zu im Verhältnis wie absolut größeren Abweichungen von den Vorgaben zur Wahl. Die Gemeindebezeichnungen wurden beibehalten, da sie öffentlich sind:

  • Allgemeine Zeitung vom 19.7.2023: In Alzey waren 21 Plätze zu vergeben, 30 Bewerbungen wurden abgegeben. „In Alzey musste kein Bewerber aussortiert werden.“
  • Aus Badenweiler berichtete die Badische Zeitung vom 2.6.2023, dass in der laufenden Amtszeit 1 Schöffe und 1 Jugendschöffin aus der Gemeinde tätig seien, die Gemeindevertretung aber jetzt 8 Kandidaten an den Schöffenwahlausschuss und einen Kandidaten an den Jugendhilfeausschuss weitergeleitet habe.
  • Die Recherchegruppe des Bayerischen Rundfunks „Kontrovers“ berichtete am 17.7.2023, dass in München, Landshut und Augsburg alle Bewerber weitergemeldet worden seien, die sich gemeldet hätten.
  • Westfalen-Blatt vom 27.6.2023: In Bielefeld hatten sich 1.330 Personen auf einen Aufruf hin beworben. Eine Überprüfung auf Extremisten fand nicht statt.
  • WAZ vom 13.4.2023: In Bottrop wurden 80 neue Schöffen für die Amtszeit gesucht. 266 Bewerbungen waren bei der Verwaltung eingegangen und landeten nach Prüfung auf der Vorschlagsliste. Von diesen Vorschlägen wurden vom Wahlausschuss lediglich 80 ausgewählt.
  • Buten und binnen vom 25.10.2023: 1.250 Menschen haben sich in Bremen laut Statistischem Landesamt als ehrenamtliche Schöffen beworben. Durch den Schöffenwahlausschuss beim Amtsgericht sind insgesamt 411 Schöffen ausgewählt worden.

d. Hinsichtlich der persönlichen Eignung berichtete kaum eine Verwaltung von Bedenken gegen einzelne Bewerber. Soweit Personen nach Diskussion nicht gewählt worden seien, habe es sich um andere Vorbehalte als solche der mangelnden Verfassungstreue gehandelt. Nur in einem Fall wurde von der Bewerbung eines AfD-Mitglieds des Jugendhilfeausschusses berichtet, das anstandslos auf die Liste gewählt worden sei. Der Eifer in der politischen Diskussion „gegen rechts“ kontrastiert scharf mit der tatsächlichen Sorglosigkeit bei der Mobilisierung geeigneter Personen für das richterliche Ehrenamt. Nichts macht dies deutlicher als die – vom Bundesjustizministerium geförderte – Kampagne zur Schöffenwahl mit einer inhaltsleeren Webseite, die von den Verantwortlichen in ihrem Sachbericht selbst als „niederschwellig“ bezeichnet wird.8 Die Kampagne war bei den allgemeinen Schöffen quantitativ durchaus erfolgreich, hat aber undifferenziert viele Bewerber angelockt, die bei niedrigen Anforderungen die Aussicht auf viel Macht und Einfluss erhielten, wenn auf der Webseite von „den ehrwürdigen Hallen eines großen Sitzungssaales“ berichtet wird, wo „Menschen (…) sehr klein in diesem Saal [wirken], gerade von der etwas erhöhten Richterbank aus“.9 Auch bei PariJus meldeten sich zahlreiche Personen, die keinerlei Vorstellung vom Schöffenamt hatten. Dabei sind Begründungen für die Bewerbung wie „Ich schaue mir immer Barbara Salesch an“ noch in den Bereich des eher Humoristischen einzuordnen. In einigen zweifelhaften Fällen von falschen Vorstellungen über das Amt, die mit der persönlichen Situation oder rechtlichen Gründen in Konflikt standen, wurde auch der Rat erteilt, von einer Bewerbung abzusehen.

e. Erste Auswirkungen zeigten sich bereits wenige Wochen nach Beginn der Amtszeit. In Braunschweig wurde im Februar 2024 eine Schöffin aus dem Verfahren ausgeschlossen, weil sie im Internet zur Tötung des brasilianischen Präsidenten Bolsonaro aufgerufen hatte.10 In Essen wurde eine Schöffin identifiziert, die u. a. Lynchjustiz als „abschreckende Maßnahme“ befürwortete.11 Ein FDP-Schöffe wurde vom Amtsgericht Bad Iburg wegen Besorgnis der Befangenheit vom Verfahren ausgeschlossen, weil seine ausländer- und islamkritischen Posts befürchten ließen, dass er gegenüber Angeklagten mit Migrationshintergrund oder einer bestimmten Religion nicht objektiv entscheiden werde.12 Nicht politisch, aber religiös stark orientiert ist eine Schöffin, die entgegen dem NRW-Neutralitätsgesetz in der Verhandlung nicht auf ihr Kopftuch verzichten wollte und deshalb von der Schöffenliste gestrichen wurde.13 Ein Schöffe im sog. Rondenbarg-Prozess wurde nach seiner Beschwerde an den NDR gegen einen Bericht über den Polizeieinsatz bei den G-20-Demonstrationen vom Landgericht Hamburg wegen Besorgnis einer Befangenheit ausgeschlossen.14 Sorglos zeigte sich eine Schöffin, die während der Hauptverhandlung über einen längeren Zeitraum private Notizen erledigte und nach dem erfolgreichen Befangenheitsantrag des Angeklagten den Prozess platzen ließ.15

Diskussionen gab es bei der Wahl der Vertrauenspersonen. In Bremerhaven lehnte die Mehrheit der Stadtverordneten einen Kandidaten der Partei „Bündnis Deutschland“ (ehemals „Bürger in Wut“) ab. In Dresden wurde eine Vertrauensperson erst im 11. Wahlgang gewählt. In Leipzig focht die AfD-Fraktion im Stadtrat die Wahl der Vertrauenspersonen an, weil ihr Vorschlag nicht die erforderliche Mehrheit erhalten hatte und der Stadtrat stattdessen einen anderen Kandidaten wählte. Das Oberverwaltungsgericht Sachsen stellte klar, dass die Fraktionen nur ein Vorschlagrecht für die Vertrauenspersonen haben.16 Der Schöffenwahlausschuss müsse nicht die Stärke von Fraktionen oder die Vielfalt der Bevölkerungsgruppen widerspiegeln.
Bei PariJus gingen einige Anfragen von Kommunen ein, die sich über die Korrektheit gerichtlicherAuskünfte vergewissern wollten. Mehrfach vertraten Gerichte die Auffassung, ein amtierender Schöffe könne nicht zur Vertrauensperson gewählt werden. Zitat: „Nachdem § 34 GVG u. a. den Ausschluss von Richtern anordnet, sind damit auch amtierende Schöffen in ihrer Funktion als Laienrichter von der Tätigkeit als Vertrauensperson ausgeschlossen.“ Berufsrichter dürfen aus Gründen der Gewaltenteilung das Schöffenamt nicht ausüben, andere Richter sind vom Schöffenamt, ergo auch vom Schöffenwahlausschuss nicht ausgeschlossen.17 Die zitierte Auffassung lässt insoweit nur die Schlussfolgerung zu, dass der Berufsrichter nicht zur Vertrauensperson berufen werden kann; von Gesetzes wegen kann er nur Vorsitzender des Schöffenwahlausschusses sein.

Als Hauptschwierigkeit hat sich – anders als vom Gesetzgeber beabsichtigt – die mehrfache Verlängerung der Amtsperiode erwiesen. Bei der Durchführung der Wahl alle fünf Jahre gestaltet sich eine kontinuierliche Anwendung von Wissen und Erfahrung schwierig – auch in der Zusammenarbeit mit der Justiz. Eine Reihe von Anmerkungen aus den Kommunen richtete sich auf die Koordination der gerichtlichen mit der kommunalen Organisation der Wahlen. Deren Fixpunkte für die Zeitplanung sind (a) am Beginn der Wahl die Veröffentlichung der Verwaltungsvorschriften durch die Justiz- bzw. Innenverwaltung, (b) die Mitteilung der in die Vorschlagsliste aufzunehmende Zahl der Personen, sowie (c) der letzte Termin zur Übersendung der Liste an das zuständige Amtsgericht. Darin müssen sich die vorbereitende Arbeit der Verwaltung, der Termin der Gemeindevertretung bzw. des Jugendhilfeausschusses zum Beschluss über die Vorschlagsliste sowie deren Veröffentlichung einbetten. Hauptkritikpunkt der Gemeinden in der Zusammenarbeit mit der Justiz war die späte Übermittlung der Zahlen oftmals erst zum letztmöglichen des in der Verwaltungsvorschrift genannten Termins. Defizite in diesem Bereich sind wenig verständlich, da der Termin der Schöffenwahl auf Jahre hin absehbar ist und die für die Berechnung der Zahl der erforderlichen Schöffen notwendigen Daten spätestens mit der Festlegung der Geschäftsverteilung 2023 durch das jeweilige Präsidium im letzten Quartal des Vorjahres feststanden. Typisch war die Erfahrung eines großen Landkreises, dessen Jugendhilfeausschuss für mehrere Amtsgerichte im Kreis Vorschlagslisten aufstellen musste, dass „bei den Gerichten durch Personalwechsel die Abläufe zur Schöffenwahl wieder gefunden werden [mussten]. Niemand kannte sich aus“. Letztere Erfahrung kann aus der Beratung der Gemeindeverwaltungen im Laufe der Wahlen bestätigt werden. Zudem korrespondierte der Mangel an vertieften Kenntnissen von Vorsitzenden eines Schöffenwahlausschusses oftmals mit der Überschätzung der Weisungsbefugnis gegenüber den Kommunen bei der Vorbereitung der Sitzung des Wahlausschusses. Die Landesverwaltungen hielten ihrerseits die Kenntnisse für so selbstverständlich, dass Hinweise in den Verwaltungsvorschriften dazu entbehrlich schienen.

a. Die bundesweite und zeitgleiche Durchführung der Schöffenwahl erleichtert durch erhöhte Aufmerksamkeit die Mobilisierung der Interessenten ebenso wie die Vorbereitung der Wahl in den Kommunen. Das Land Berlin macht zeitlich insoweit eine Ausnahme, als traditionell die Prozedur bereits in der Mitte des vorletzten Jahres der Amtsperiode beginnt (zuletzt 2022). Gerade jüngeren Leuten fällt es schwer, sich für ein Ehrenamt zu bewerben, das erst in eineinhalb Jahren beginnt. In Berlin endete die Frist zur Bewerbung als Jugendschöffe bereits Ende November 2022, für die allgemeinen Schöffen im März 2023. Frühe Fristen haben zur Folge, dass bei einer nicht ausreichenden Zahl von freiwilligen Bewerbungen auf das Zufallsverfahren zurückgegriffen wird, um die doppelte Personenzahl zu erreichen. Dabei werden Personen per Los aus dem Einwohnermelderegister ermittelt.

Für die überwiegend federführenden Landesjustizverwaltungen sind die Vorschriften zum GVG, JGG, DRiG und deren zeitliche Abfolge maßgeblich. Die Veröffentlichung erfolgte in den meisten Ländern zwischen Oktober und Dezember 2022, teilweise erst Anfang 2023. So gibt die Verwaltungsvorschrift des Landes Sachsen-Anhalt vom 30.1.2023 den Gerichtspräsidenten die Feststellung der Zahlen der erforderlichen Schöffen zum 31.1.2023 auf. Für die Gerichtspräsidenten hat der späte Termin kaum eine Bedeutung, da das maßgebliche Kriterium zur Berechnung des Bedarfs an Schöffen – die Zahl der Sitzungstage des jeweiligen Gerichts – spätestens im letzten Quartal eines jeden Jahres feststeht. Der Termin spielt aber eine Rolle in der Zusammenarbeit von Justiz und Kommunen. Die Gemeinden und Kreise benötigen längere Zeit zur Vorbereitung, vor allem bei der Einarbeitung der zuständigen (neuen) Mitarbeiter in die Aufgaben. Diese müssen sich rechtzeitig sachkundig machen.
Im Bereich der allgemeinen Schöffen werden die Sachbearbeiter in sehr vielen Gemeinden nach der aktuellen Belastungslage in der Verwaltung bestimmt. Befragungen in über 100 Seminaren seit 2012 haben eine Bandbreite der Zuständigkeiten vom Rechts- bzw. Ordnungsamt bis zum Standesamt oder Bauamt ergeben. Für die Wahl der Jugendschöffen liegt die vorbereitende Arbeit zur Aufstellung der Vorschlagsliste regelmäßig bei der Verwaltung des Jugendamtes.

Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern haben zur besseren Planung bereits im Mai bzw. Juni 2022 Erlasse ausschließlich zur zeitlichen Organisation herausgegeben20 und später durch Hinweise zur Vorschlagsliste, insbesondere der Geeignetheit der Bewerber und zur Beteiligung gesellschaftlicher Organisationen ergänzt.21 Die frühe Erinnerung an den Zeitrahmen ermöglicht eine rechtzeitige Zuweisung der Aufgabe an den jeweiligen Mitarbeiter. Das im Segment der Schöffenwahl mit Alleinstellungsmerkmal versehene Fortbildungsprogramm zur Verwaltungspraxis der Länder und Kommunen der Bildungs- und Technologiegesellschaft mbH (BITEG), Berlin beginnt mit den Seminaren deshalb jeweils spätestens im letzten Quartal des Jahres vor der Schöffenwahl. PariJus hat die Seminarteilnehmer anlässlich der Schöffenwahlen 2012/13 und 2017/18 (fast 2.000 Teilnehmer) sowie der letzten Wahl mit 31 bundesweiten Präsenz-Seminaren und vier Online-Seminaren während des weiteren Verlaufs der Wahl kontinuierlich beraten.

b. In vielen Kommunen ist die Aktenlage aus der vorherigen Wahl dürftig. Aus Gründen des Datenschutzes werden die Bewerbungsunterlagen – oft auch die verfahrensbezogenen Dokumente – innerhalb eines bestimmten Zeitraums nach Abschluss der Wahl vernichtet. Regelmäßig wurde von Seminarteilnehmern berichtet, dass sie aus den Vorwahlen keinerlei Unterlagen vorgefunden haben. Antworten auf Anfragen in Bayern nahmen z. B. hinsichtlich der Bewerbungsunterlagen von Jugendschöffen Bezug auf die „Empfehlungen über die Aufbewahrung von Akten der Jugendämter“, wonach die Unterlagen als „übrige Akten“ einer dreijährigen Aufbewahrungsfrist unterliegen.22 Hier ist zu differenzieren: Bewerbungsunterlagen der nicht in die Vorschlagsliste aufgenommenen Personen können spätestens am Ende des Wahljahres vernichtet werden. Die Unterlagen der in die Vorschlagsliste aufgenommenen Personen werden eventuell noch benötigt. Während der fünfjährigen Amtszeit kann die ordnungsgemäße Wahl jedes einzelnen Schöffen bis in die Ursprünge nachgeprüft werden (etwa vom Verteidiger); zum anderen werden eventuelle Ergänzungswahlen im Laufe der Amtsperiode (§ 52 Abs. 6 GVG) aus den 2023 beschlossenen Vorschlagslisten durchgeführt. Diese Akten befinden sich zwar auch bei den jeweiligen Amts- und Landgerichten. Dort herrscht ebenso – wie Anfragen zu entnehmen ist – vereinzelt Unsicherheit über die Behandlung der mit der Bewerbung verbundenen Unterlagen. Soweit die Datenschutzbeauftragten Hinweise zur Wahl geben, tun sie dies vorwiegend aus der Perspektive der Bewerber als Privatpersonen. Die mit der Privatsphäre konfligierenden Prinzipien der Transparenz öffentlicher Gewalt und des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 GG) bleiben dabei unbeachtet, was wiederum in Konkurrenz zu den Warnungen vor der Unterwanderung des Amtes steht.

c. Die Inhalte vieler Verwaltungsvorschriften zur Eignung der Schöffen geben Anlass zu Kritik. Die meisten erschöpfen sich in der Wiedergabe des Gesetzestextes über die formalen Voraussetzungen. Auch diese bedürfen der Erläuterung. In der Praxis wird z. B. der Unterschied zwischen der Unfähigkeit (§§ 31, 32 GVG) und der Ungeeignetheit (§§ 33, 34 GVG „sollen nicht berufen werden“) zur Übernahme des Amtes von den Verwaltungsmitarbeitern oft so interpretiert, dass von den Gründen der Ungeeignetheit abgewichen werden könne. Ein Hinweis, dass dieses „Soll“ keine Norm mit eingeschränktem Ermessensspielraum im verwaltungsrechtlichen Sinn ist („Verbot mit der Möglichkeit einer Ausnahme in begründeten Fällen“), findet sich in den Verwaltungsvorschriften nicht. So ist z. B. nach Feststellung der Ungeeignetheit eines Bewerbers aus gesundheitlichen Gründen (§ 33 Nr. 4 GVG) denklogisch ein Fall ausnahmsweiser Eignung ebenso unmöglich wie eine vom Verbot des § 34 Abs. 1 Nr. 4 GVG abweichende Wahl eines Richters oder Staatsanwalts in das Schöffenamt, obwohl auch diese nach dem Wortlaut des Gesetzes nicht gewählt werden „sollen“. Die Landesverwaltungen sollten sich mit einer Harmonisierung der Verwaltungsvorschriften aus kommunaler Sicht befassen.

Neben der Koordination der Arbeit der Gemeinden und der Justiz in der Wahl haben die Verwaltungsvorschriften vor allem normerläuternden Charakter, d. h. Begriffe sollen erklärt werden, die nicht zum gängigen Sprachgebrauch in den Kommunen gehören. Gerade hier weisen die meisten Vorschriften erhebliche Mängel auf. Vorbildlich sind insoweit z. B. die bayerischen Verwaltungsvorschriften, die mittels einiger „Amtlicher Anmerkungen“ Gesetzesbegriffe erläutern. Zur Ungeeignetheit von Beamten, „die jederzeit einstweilig in den Warte- oder Ruhestand versetzt werden können“, wird auf die den sog. politischen Beamten erklärenden § 54 Bundesbeamten- und § 30 Beamtenstatusgesetz hingewiesen. Ebenso erschließt sich nicht für jeden Anwender, dass mit „Polizeivollzugsbeamten“ (§ 34 Abs. 1 Nr. 5 GVG) auch bestimmte Angehörige anderer Behörden umfasst sind, wie etwa Zollbeamte mit Vollzugsaufgaben. Zur gesundheitlichen Eignung wurde mehrfach gefragt, ob eine als „vollständig erwerbsgemindert“ in Rente befindliche Person gewählt werden könne.23 Nach der Erfahrung bei PariJus eingegangener Anfragen sind auch Hinweise angebracht, dass sich die Ungeeignetheit von Rechtsanwälten und Notaren für das Schöffenamt nicht auf deren Mitarbeiter erstreckt, und von Richtern und Staatsanwälten nicht auf alle Justizbeschäftigten. Auch der Begriff des Religionsdieners ist in seiner Bedeutung für das Schöffenamt häufig unbekannt. Einen Schritt zur Vereinheitlichung im Bereich der ungeschriebenen Merkmale über die Eignung für das Schöffenamt stellt die Aufnahme der bayerischen Erläuterung zur Erforderlichkeit von „Unparteilichkeit, Selbständigkeit und Reife des Urteils, aber auch geistige(r) Beweglichkeit und körperliche(r) Eignung“ in die Verwaltungsvorschriften einiger anderer Bundesländer dar. Schleswig-Holstein hat – worauf ich seit 1996 hinweise24 – die Anforderungen an die künftigen Amtsinhaber weiter präzisiert, dass diese „soziales Verständnis, Menschenkenntnis und Einfühlungsvermögen, Berufs- und Lebenserfahrung sowie logisches Denkvermögen und Kommunikationsfähigkeit“ für die Amtsausübung mitbringen sollen. Die vergangenen Wahlen haben die Notwendigkeit eines solchen ausführlichen Anforderungskataloges deutlich gemacht.

d. Durch Änderung des GVG sind (nur!) für die zu veröffentlichenden Vorschlagslisten die Angaben zur Geburt auf das Geburtsjahr und beim Aufenthalt auf den Wohnort beschränkt, bei häufig vorkommenden Namen ist auch der Stadt- oder Ortsteil erforderlich.25 Natürlich müssen mit der Bewerbung bei Gemeinde und Jugendhilfeausschuss weiterhin die vollständige Anschrift sowie Geburtstag und -ort angegeben werden. Diese Daten dienen der Identifizierung des Bewerbers bei der Überprüfung der Wählbarkeitsvoraussetzungen in öffentlichen Registern (Vorstrafen, Insolvenz usw.) und sind für spätere Benachrichtigungen und Ladungen der Gerichte erforderlich. Die eingegangenen Anfragen ließen auf Verwirrung bei den kommunalen Verwaltungen schließen, welche Daten der Bewerber zu erheben sind. PariJus hat auf seiner Webseite auf den Unterschied aufmerksam gemacht, der in einigen Verwaltungsvorschriften fehlt (z. B. Mecklenburg-Vorpommern) und sich in anderen erst aus der Zusammenschau von Verwaltungsvorschriften und offiziellen Bewerbungsformularen oder -listen ergibt (z. B. Bayern).

a. Die Schöffenwahl beginnt mit der Feststellung der in den nächsten fünf Jahren erforderlichen Zahl von Haupt- und Ersatzschöffen für die allgemeine und die Jugendstrafgerichtsbarkeit. Zuständig sind die Präsidenten der Landgerichte bzw. der Amtsgerichte als Präsidialgerichte. Der Bedarf an Hauptschöffen wird berechnet nach der Formel: Anzahl der Sitzungstage (der Schöffengerichte bzw. Strafkammern) multipliziert mit 2 (Schöffen) dividiert durch 12 (potenzielle Einsätze pro Schöffe und Jahr). Das Ergebnis stellt die Höchstzahl dar, da durch mehrtägige Verhandlungen sowie nicht in Anspruch genommene Sitzungstage wegen Urlaubs, evtl. Krankheit oder Fortbildung der Berufsrichter der reale Bedarf sinkt. Die im langjährigen Mittel durchschnittliche tatsächliche Inanspruchnahme des einzelnen Schöffen beträgt nach der letzten zugänglichen Berechnung für das Jahr 2013 lediglich 6,5 Sitzungstage.26 Die Zahl der Verfahren hat sich bis 2023 nicht wesentlich geändert. Dass Verfahren zunehmend länger dauern, hat auf die Zahl der benötigten Hauptschöffen eher mindernde Auswirkung, da unabhängig von der Dauer nur die beiden Schöffen des ersten Sitzungstages benötigt werden. Mittelbar können sich bei längeren Verfahren Auswirkungen bei der Zuziehung von Ergänzungsschöffen ergeben, angesichts ihres eher seltenen Einsatzes aber nur in marginaler Form. Wie aus dem oben zitierten Beitrag hervorgeht, werden – gemessen an der gesetzlichen Vorgabe – seit Jahren deutlich zu viele Schöffen in das Amt gewählt.

b. Die benötigte Zahl von Ersatzschöffen beruht auf Erfahrungsätzen. Diese ist logischerweise geringer als die Zahl der Hauptschöffen, die auf 12 Hauptverhandlungen pro Jahr kalkuliert werden, auf die selbst eine gleiche Zahl von Ersatzschöffen nur käme, wenn in 50 % der Verfahren ein Vertretungs- oder Ergänzungsfall eintreten würde. Es bedarf daher der Erläuterung, wenn die von der Justiz errechnete Zahl der Ersatzschöffen diejenige der Hauptschöffen – im Einzelfall bis zu einem Drittel – übersteigt. In Berlin wurden – trotz der bereits hohen Zahl an Hauptschöffen – bei dieser Wahl 700 Ersatzschöffen (bei 658 Hauptschöffen) in Jugendverfahren und 2.401 Ersatzschöffen in Strafsachen gegen Erwachsene (bei 1.731 Hauptschöffen) gewählt.27 In durchschnittlich mehr als jedem dritten Verfahren müsste ein Einsatzgrund (Ersatz für Hauptschöffen, Ergänzungsschöffen, neuer Spruchkörper usw.) vorliegen, damit jeder Ersatzschöffe einmal im Jahr zum Einsatz käme. Folge einer so hohen Zahl an Ersatzschöffen ist, dass es bis tief ins zweite Jahr der Amtsperiode dauern wird, bis alle einmal zum Einsatz gekommen sind. Bis nach dem Einsatz oder einer Verhinderung bzw. Nichterreichbarkeit ein Ersatzschöffe von Platz 2.401 wieder auf Platz 1 landet, dürfte erneut eine geraume Zeit vergehen. Diese Rechnung wird untermauert durch Berichte von Ersatzschöffen, die in der vergangenen Amtsperiode keinen einzigen Einsatz hatten. Mit dieser Erfahrung dürften diese Personen für ein erneutes ehrenamtliches Engagement in der Justiz kaum zu motivieren sein.

Auffällig sind die Angaben zweier hessischer Kommunen, die übereinstimmend berichteten, dass ihnen für die Aufstellung der Vorschlagsliste der auf sie entfallende Bedarf an Haupt- und Ersatzschöffen mitgeteilt worden sei. Eine soll ihrer Antwort zufolge sogar getrennte Vorschlagslisten aufgestellt haben. In beiden Fällen überstieg die Zahl der Ersatzschöffen die der Hauptschöffen erheblich, nämlich einmal 20 Haupt- und 36 Ersatzschöffen, zum anderen 49 Haupt- und 129 Ersatzschöffen. Das Verhältnis ist auch nicht mit der Vorgabe zu erklären, dass die Ersatzschöffen aus dem Ort am Sitz des Amtsgerichts bzw. den Gemeinden des Amtsgerichtsbezirks, in dem das Landgericht seinen Sitz hat, gewählt werden sollen. Der sorglose Umgang mit der Feststellung der erforderlichen Zahl an Schöffen ist umso erstaunlicher, als kaum eine Bekanntmachung oder Stellungnahme zur Schöffenwahl die Warnung vor der Unterwanderung durch verfassungsfeindliche Elemente vermissen ließ. Beinhaltet schon die Verlängerung der Amtsperiode auf fünf Jahre den Trugschluss, damit würde der Aufwand in den Kommunen geringer, so wird diese Absicht noch einmal konterkariert durch eine – am Maßstab des Gesetzes orientierte – überhöhte Zahl von Schöffen, die sich bei der Aufstellung der Vorschlagslisten noch einmal verdoppelt. Die Schwierigkeiten, Bewerber auf ihre Geeignetheit zu prüfen, nehmen damit potenzial zu.

Einige Regelungen sind in ihrer Wortwahl missverständlich. So regelt die Verwaltungsvorschrift von Sachsen-Anhalt zunächst „Der Präsident des Landgerichts bestimmt die erforderliche Zahl von Haupt- und Ersatzschöffen …“ und danach „Die festgesetzte Anzahl (…) wird (…) in Anlehnung an die Einwohnerzahl aufgeteilt“. Sodann wird bestimmt: „Die Direktoren der Amtsgerichte unterrichten die Gemeinden zur Aufstellung der Vorschlagslisten über die Zahl der jeweils vorzuschlagenden Personen.“30 Die erforderliche und die festgesetzte Anzahl weisen auf die einfache, die vorzuschlagenden Personen aber auf die (mindestens) doppelte Zahl der Bewerber hin. Daher war die unklare Mitteilung der Präsidenten bzw. Vorsitzenden des Wahlausschusses, ob die Verdoppelung bereits vorgenommen wurde oder den Gemeinden überlassen bleibe, ein häufig diskutiertes Problem in den Seminaren für die kommunalen Mitarbeiter. Wie bereits bei der Analyse der Umfrage erwähnt, hatten eine Reihe von Gemeinden durchaus Schwierigkeiten im Verständnis der in die Vorschlagsliste aufzunehmenden Zahl.

Die Unkenntnis einer bereits erfolgten kann zu einer nochmaligen Verdoppelung führen, sodass Gemeinden ggf. auf die Zufallsauswahl aus dem Einwohnermelderegister zurückgreifen. Damit steigt das Risiko, desinteressierte, politisch bedenkliche oder – nach den ungeschriebenen Voraussetzungen – ungeeignete Personen in die Vorschlagsliste aufzunehmen. Eine solche Konstellation macht die schriftliche Anfrage an die Berliner Senatorin für Justiz deutlich.31 Die einzige im Laufe der Wahl 2023 (aufgrund der Äußerungen zur Ablehnung des Amtes) in Berlin identifizierte Bewerberin mit extremistischen Tendenzen war aus dem Melderegister ausgelost worden. Der vielbeschworenen Unterwanderung durch extremistische oder sonst verfassungsfeindlich orientierte Kräfte kann vor allem durch ein ordentlich vorbereitetes, klares und verständliches Verfahren begegnet werden.

a. Da Schöffenwahlen bundesweit im gleichen Zeitraum stattfinden, erzielt die vielfältige Öffentlichkeitsarbeit große Resonanz. Medien, Gemeinden und private Institutionen informierten 2023 bundesweit, sodass früher geäußerte Feststellungen, regional und zeitlich verschobene Wahlen würden nicht überall auf hinreichendes Interesse stoßen,32 in dieser Wahl nicht zu verzeichnen war.

Die Bewerbungsfristen in den Gemeinden waren allerdings sehr unterschiedlich, sodass ein anderes Phänomen in erheblicher Zahl auftrat. Interessenten, die aus überregionalen Veröffentlichungen oder Medien – und nicht aus einer heimischen Quelle – von der Schöffenwahl Kenntnis erhielten, waren weder über die für die Bewerbung zuständige Stelle noch das Zeitfenster informiert, wo und bis wann die Bewerbung abzugeben war. Soweit bei Anfragen an PariJus auf dem Kontaktformular der Wohnort angegeben war, wurde jeweils geprüft, bei welcher Stelle, in welcher Form und bis zu welchem Datum die Bewerbung abzugeben war. Mit zunehmendem Zeitablauf mussten Interessenten darauf hingewiesen werden, dass die Bewerbungsfrist in der Wohngemeinde bereits abgelaufen war. Vielfach gaben Informationen aus den eingehenden Anfragen Anlass, aus Gründen des Alters, des Berufes usw. auf Umstände hinzuweisen, die einer Bewerbung entgegenstehen könnten. Die Anfragen ließen erkennen, dass vor allem im Internet viele Informationen über Wahl und Amt zu oberflächlich waren und unzureichende Kenntnisse vermittelten.

b. Die Vorgabe sozialer Ausgewogenheit bei der Aufstellung der Vorschlagsliste und der Wahl (§§ 36 Abs. 2, 42 Abs. 2 GVG) fokussierte sich 2023 stark auf Alterskriterien. Die Statistiken zur Altersstruktur weisen (solange sie bis 1998 erhoben wurden) aus, dass die Altersgruppe von 25 bis 39 Jahren – gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil – unterrepräsentiert war. Das traf aber auch auf die über 60-Jährigen zu, vor allem auch die privaten Arbeitnehmer. Der Bezugnahme auf die Sozialstruktur ist die faktenbezogene Grundlage entzogen. Zudem fehlt der kritiklosen Gleichsetzung der verschiedenen Altersgruppen die Einbeziehung des sozialen Hintergrundes. Die Ausübung eines Ehrenamtes, das in der fünfjährigen Amtszeit mit familiären, beruflichen und örtlichen Bindungen kollidieren kann, findet naturgemäß in jüngeren Altersgruppen aufgrund dieser Belastung eine geringere Bereitschaft. Die Übernahme des Amtes hängt gerade bei dieser Altersgruppe neben der bloßen Bereitschaft vor allem von der Möglichkeit zur Ausübung ab. Wie wenig die formale Forderung nach Vertretung aller Gruppen auf die reale Situation gerade junger Menschen eingeht, zeigt sich bei der Entschädigung für Verdienstausfall. Gesetzgeber sowie die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts muten ehrenamtlichen Richtern durch die Deckelung der Entschädigung Einkommensverluste zu. Statt diese Nachteile zu beseitigen, die es in keinem anderen staatlichen Ehrenamt gibt, werden jüngere Leute mit flotten Sprüchen und bunten Bildern in ein anspruchsvolles Amt „gelockt“. Die Mobilisierung jüngerer Bewerber trug daher eher Züge eines politischen Geschäftsmodells.

a. PariJus hat seit mehreren Wahlen mit der Webseite www.schoeffenwahl.de eine zielgruppenorientierte, interaktive Information aufgebaut (Interessenten, Kommunen, Arbeitgeber, Wahlausschuss, Medien). Die Webseite wurde zum 1. Oktober 2022 aktualisiert. Sie verzeichnete im Wahljahr 617.149 Besuche mit 1.671.644 Seitenansichten, 39 % davon waren direkte Zugriffe. 52 % kamen über 19 registrierte Suchmaschinen (mit 129 verschiedenen Suchbegriffen), 2 % aus acht sozialen Netzwerken und 7 % über andere (verlinkte) Webseiten. Insgesamt hatten sich 1.099 Webseiten – insbesondere kommunale – verlinkt, die ihre Ankündigungen zur Wahl mit detaillierten Hinweisen unterlegten, sowie örtliche Medien. 5.164 Zugriffe erfolgten über Verlinkungen mit Webseiten von Landesregierungen sowie der Bundeszentrale für politische Bildung. Die Zugriffe signalisieren auch das jeweilige Interesse an sachorientierten Informationen. Bei den Zielgruppen lag der Bereich „Kommunen“ mit über 449.000 Ansichten eindeutig an der Spitze, gefolgt von den „Interessenten“ mit knapp 345.000 Zugriffen. Die Seite „Arbeitgeber“ verzeichnete über 93.000 Zugriffe. Die spezielle und personell kleine Gruppe, die vom Bereich „Wahlausschuss“ angesprochen werden sollte, wies immerhin noch 25.700 Aufrufe auf.
Zeitlich gesehen begannen die umfangreichen Zugriffe in der dritten Januarwoche 2023 mit über 32.000 Besuchen, hatten ihre Höhepunkte in den Wochen vom 27.2. bis 5.3.2023 mit knapp 49.000 und vom 13. bis 19.3.2023 mit über 47.500 Besuchern. Ab Mitte April sanken die Besucherzahlen kontinuierlich und pendelten bis Mitte Oktober um die 3.000-Besucher/Woche-Marke herum. Ab Anfang November stiegen die Zahlen wieder leicht auf die 5.000-Besucher-Marke. Es meldeten sich diejenigen, die wissen wollten, ob sie gewählt wurden und weder von Kommune noch Amtsgericht eine Nachricht erhalten hatten. Die Zahlen signalisieren über ihre reine Quantität hinaus, dass sich die Aufmerksamkeit der Zielgruppen über einen begrenzten Zeitraum erstreckt und der Wahlvorgang bei einer Harmonisierung durch die Verwaltungen der einzelnen Bundesländer weiter effektiviert werden kann.

b. Erstmals konnte PariJus auch Videobeiträge bei der Information über das Schöffenamt und die Schöffenwahl einsetzen. Die Hessische Staatskanzlei förderte eine „Video-Kampagne Schöffenwahl 2023“ im Rahmen des Programms „Dein Ehrenamt“. Dieses Projekt wurde in Kooperation mit Schöffen TV (YouTube-Kanal) realisiert. Mit zwölf Vorträgen und fünf Interviews sowie in 16 sog. Shorts (Ausschnitte aus den Videobeiträgen mit Kernsätzen zum Schöffenamt) in über zwei Stunden „Sendezeit“ wurden von der Rolle und Funktion der Schöffen bis zu Aufwandsentschädigung und Freistellung die wesentlichen Themen besprochen, die für eine Entscheidung über die Bewerbung zum Amt erforderlich sind.39 Im ersten Teil der Kampagne sollten die Interessenten über die Fähigkeiten und Voraussetzungen sowie das Wahlverfahren informiert werden. Im zweiten Teil wurden praktische Kenntnisse über die Amtsausübung, Rolle und Verantwortung der Schöffen vermittelt, wie allgemeine Rechtsstellung, Rechte und Pflichten, Abstimmung im Kollegialgericht (Zwei-Drittel-Mehrheit), verschiedene Schöffenämter (Haupt-, Ersatz-, Jugendschöffe), Besonderheiten des Jugendschöffenamtes, Entschädigung nach dem JVEG, Vereinbarkeit Beruf – Ehrenamt, Zusammenarbeit mit den Berufsrichtern. Dazu wurden optische und akustische Beiträge zur Ansprache der unterschiedlichen Bevölkerungskreise gefertigt.

Drei Landeszentralen für politische Bildung haben die Videos in ihr Programm zur Wahl aufgenommen. Da auch dieses Projekt interaktiv angelegt war, nahmen die Zuschauer noch in über 3.500 Fällen die Möglichkeit wahr, Fragen per E-Mail zu stellen, die individuell beantwortet wurden. Diese zusätzlichen Auskünfte waren umso wichtiger, als durch eine Reihe von Videos anderer Institutionen fehlerhafte Informationen verbreitet wurden, z. B. wurde eine Zuständigkeit des Amtsgerichts bis sechs Jahren Freiheitsstrafe behauptet, die Ahndung von „Bagatellsachen“ mit bis zu zwei Jahren Freiheitsstrafe, Schöffen könnten zur Akteneinsicht das Selbstleseverfahren beim Vorsitzenden anregen. Die Art der Darstellung signalisierte, dass unterschiedslos jeder dieses Amt ausüben könne. PariJus hat allein aufgrund dieser Videos zahllose Vorurteile von Bewerbern ausräumen müssen, die eine Art Freizeit- oder Weiterbildungseinrichtung in dem Amt sahen, das man auch mal für eine Weile „ruhen lassen“ könne, z. B. wenn man für mehrere Monate als Rentner im Urlaub ist, ein Sabbatical nimmt, zum Studium im Ausland ist oder in Elternzeit geht. Reaktionen über die Kommentarfunktion spät im Jahr 2023 ließen zudem darauf schließen, dass bereits gewählte Schöffen nach der Auslosung durch die Amts- und Landgerichte die Beiträge in Schöffen TV jetzt als Information zur Einführung in das Amt nutzten.

 c. Von den Volkshochschulen gab es Anfragen nach Online-Seminaren für Bewerber, die außerordentlich erfolgreich waren. Im Spitzenfall nahmen an einem Online-Seminar des VHS-Verbandes Rheinland-Pfalz für seine Volkshochschulen im Land 698 Personen teil. Anfangs gehegte didaktische Zweifel an dem Online-Format wurden durch Rückmeldungen der Teilnehmer beseitigt, für die das Format „informativer [war] als jede Internetseite“. Sie hatten über die Chat- und F&A-Funktion in gewissem Umfang die Möglichkeit zur individuellen Kommunikation. Eine Reihe von persönlichen Fragen wurden auch nachträglich beantwortet. Diese Erfahrungen motivieren zum Angebot von Informationen für aktive Schöffen, die bei intensiver, praktischer Unterweisung in der didaktischen Ausformung näher an die Bedingungen von Präsenz-Seminaren herangeführt werden müssen.

Auf nahezu allen Gebieten der Schöffenwahl gibt es Verbesserungsbedarf:

a. Die Verwaltungsvorschriften etlicher Landesverwaltungen müssen präzisiert werden, insbesondere die Erläuterung von Ausschlussgründen sowie die ungeschriebenen Eignungsvoraussetzungen für das Amt. Die Beteiligung der Bürger an der unmittelbaren Ausübung von Staatsgewalt ist am Maßstab des Art. 33 Abs. 2 GG zu messen. Für die Bewerber ist ein Nachweis vorzusehen, dass Grundkenntnisse über die Anforderungen im Ehrenamt vorhanden sind. Volkshochschulen und zertifizierte Organisationen sollten hierfür örtlich in Präsenz oder zentral über Online-Veranstaltungen Einführungen in das Amt anbieten. Die Verwaltungsvorschriften sind rechtzeitig zu veröffentlichen, ggf. in einem zweistufigen Verfahren, in dem die terminlichen Vorgaben frühzeitig im Jahr vor der Schöffenwahl mitgeteilt werden, damit die zeitliche Planung für die kommunalen Organe rechtzeitig erfolgen kann. Eine zumindest grobe Abstimmung unter den Verwaltungen der Bundesländer über den zeitlichen Ablauf verbessert die öffentliche Aufmerksamkeit. Zudem ist konkret zu bestimmen, dass die Mitteilung der Justiz an die Kommunen über die Zahl der in die Vorschlagsliste aufzunehmenden Personen die erforderliche (d. h. einfache) Zahl der Schöffen beinhaltet, die von den Kommunen (mindestens) zu verdoppeln ist. Die Kommunen sind deutlich darauf hinzuweisen, dass es in ihrer Kompetenz liegt, eine das Doppelte des Bedarfs an Schöffen überschreitende Bewerberzahl auf das erforderliche Maß zu reduzieren. Der Begriff „mindestens“ ist auf eine Überschreitung von nicht mehr als 10 %, maximal 10 Personen zu definieren. Die Notwendigkeit entfällt, wenn der Gesetzgeber sich für eine vollständige – d. h. einstufige – Kommunalisierung der Schöffenwahl entschließen sollte.

b. Die Berechnung des Bedarfs an Schöffen durch die Präsidenten der Land- und Amtsgerichte ist sorgfältiger und transparenter zu gestalten und spätestens zum 15.12. des Jahres vor der Wahl den Gemeinden mitzuteilen. Zur Erklärung des erneuten Anwachsens der Vorgaben zur Zahl der Hauptschöffen der laufenden Amtsperiode trotz sinkender Erledigung durch Hauptverhandlungen könnten ggf. Landtagsabgeordnete mit parlamentarischen Anfragen beitragen.

c. In Vorbereitung der Wahl haben die Gemeinden die Aufgabe, die Mitarbeiter für die Aufgabe zu schulen, insbesondere wenn diese Aufgabe erstmalig übernommen wird. Die Bekanntmachung der Wahl an die Öffentlichkeit hat ausführlich und umfassend zu erfolgen, ggf. durch Verlinkung auf Webseiten, die die Anforderungen an das Amt präzise beschreiben. Die Kommunen haben darauf hinzuwirken, dass Informationsveranstaltungen für Interessenten ortsnah angeboten werden, oder auf digitale Angebote hinzuweisen. Die demokratischen gesellschaftlichen Organisationen sind in die Wahl einzubeziehen und um Vorschläge aus ihrer Mitgliedschaft zu ersuchen. Über die Anforderungen an das Amt sind die Organisationen ausreichend zu informieren.

d. Bei den Amtsgerichten sind die Vorsitzenden der Schöffenwahlausschüsse zur Fortbildung anzuhalten. Ihnen ist die Aufgabe zuzuweisen, nach der Entscheidung des Wahlausschusses die nicht gewählten Bewerber zu informieren. Ein Mehraufwand ist für die Richter damit nicht verbunden, da inzwischen die Bewerber über Excel-Tabellen gemeldet werden und die Nachricht von der Gerichtsverwaltung im Wege der Serien-E-Mail versandt werden kann. Dazu ist erforderlich, dass die Bewerber ihre Erreichbarkeit via E-Mail bei der Bewerbung angeben, sodass auch die späteren Ladungen digital versandt werden können. Den übrigen Mitgliedern des Schöffenwahlausschusses ist eine Fortbildung über ihre Aufgabe zu ermöglichen. Zudem ist – ggf. durch den Gesetzgeber – zu regeln, dass die Sitzungen des Wahlausschusses öffentlich sind.

e. Eine der größten Fehlerquellen der Schöffenwahl ist die Zweistufigkeit des Procederes. Der Änderung der Wahl aus der Urliste in die Wahl aus der von der Gemeindevertretung bzw. dem Jugendhilfeausschuss beschlossenen Vorschlagslisten lag 1950 eine andere Bevölkerungszahl und eine andere Gemeindestruktur zugrunde. Die Bevölkerungszahl ist größer und die Zahl der Gemeinden durch mehrere Strukturreformen kleiner geworden. Durch ihr Entscheidungsverhalten delegieren die Gemeindevertretungen faktisch die Auswahl vollständig auf den neunköpfigen Wahlausschuss auf der Ebene der Amtsgerichtsbezirke (die ebenfalls größer sind als 1950).

f. Die Gefahr einer Wahl ungeeigneter Personen ist nicht nur abstrakt größer geworden. Bislang haben Politik und Medien vor extremistischen und verfassungsfeindlichen Kräften gewarnt und dabei – die unwissenden und vorurteilsbehafteten außer Acht lassend – strukturelle Reformen nicht ins Kalkül gezogen. Diese sind aber erforderlich, um nicht Kräften, die bereits wieder die Abschaffung der Schöffenbeteiligung ins Gespräch bringen, Vorschub zu leisten.40 Daneben darf die Aufklärung der Öffentlichkeit nicht aus den Augen verloren werden. Ansonsten wächst die ohnehin bestehende Gefahr eines Verlustes zivilgesellschaftlicher Beteiligung an einer ganzen Staatsgewalt. Die Kritik ist inzwischen in der öffentlichen Diskussion zur Schöffenwahl angekommen. Sehl kommentiert die „dünne“ Information durch die Justizverwaltungen und die mangelnde Sorgfalt der Entscheidungsgremien, die systemisch durch die zweistufige Wahl begünstigt wird: „Mit der rechtspolitischen Aufmerksamkeit für das Schöffen-Thema bleibt es deshalb dabei: Alle fünf Jahre Augen zu und durch und einfach hoffen, dass nichts allzu Schlimmes passiert. Der Rechtsstaat schlittert so unvorbereitet von einer Wahlrunde in die nächste. Das Risiko, dass sich das als verhängnisvoll herausstellt, war wohl noch nie so groß wie 2023.“41

  1. Hasso Lieber, Die Verantwortung der Gemeinden und Kreise bei der Schöffenwahl 2023, 2. Aufl., 2022.[]
  2. Verwaltungsgliederung am 31.12.2022 [Abruf: 14.11.2024].[]
  3. Lieber (Fn. 1), S. 33.[]
  4. Zu Fehlern bei der Aufstellung der Vorschlagsliste vgl. Lieber (Fn. 1), S. 106 f., zu Verfahren und Zuständigkeit des Vorsitzenden des Schöffenwahlausschusses vgl. S. 117.[]
  5. So die Begründung des damaligen Bundesjustizministers Thomas Dehler, wonach durch die Einbeziehung der kommunalen Gremien „besonders geeignete, besonders tüchtige Laien“ an der Strafrechtspflege mitwirken sollen, BT-PlPr 1/43 S. 1435A; Begründung zum Gesetzentwurf BT-Drs. 1/530, S. 7.[]
  6. Vgl. zu den vom BGH gebilligten Methoden: Lieber (Fn. 1), S. 126 f., z. B. soziologische Gruppen zu bilden, aus denen die Schöffen entsprechend des Anteils an der Gesamtbevölkerung ausgelost werden.[]
  7. BGH, Urteil vom 30.7.1991, Az. 5 StR 250/91, NStZ 1992, S. 92; vgl. Lieber (Fn. 1), S. 106.[]
  8. Webseite: www.schoeffenwahl2023.de.[]
  9. Erfahrungsberichte [Abruf: 14.11.2024].[]
  10. Markus Sehl/Helena Schröter, Unterwandern Rechtsextreme die Gerichte?, LTO vom 11.4.2024 [Abruf: 14.11.2024].[]
  11. Miriam Lenz/Jonathan Sachse/Tim Wurster, Schöffin am Amtsgericht Essen hetzt gegen Migranten und zweifelt an Unabhängigkeit der Justiz, CORRECTIV vom 4.7.2024 [Abruf: 14.11.2024].[]
  12. Gericht prüft Abberufung von Schöffen, LTO vom 21.10.2024 [Abruf: 14.11.2024].[]
  13. Vgl. hierzu OLG Hamm, Beschluss vom 11.4.2024, Az.: 5 Ws 64/24, in dieser Ausgabe.[]
  14. André Zuschlag, Schöffe mit eigener Mission, taz.de vom 12.6.2024 [Abruf: 14.11.2024].[]
  15. LG Dortmund, Beschluss vom 8.11.2024, Az.: 45 Ns 131/22, in dieser Ausgabe.[]
  16. Beschluss vom 2.10.2023, Az.: 4 B 173/23, LAIKOS Journal Online 2024, S. 67, 69.[]
  17. Kissel/Mayer, GVG, 10. Aufl. 2021, § 34 Rn. 7.[]
  18. Zusammenstellung der Verwaltungsvorschriften.[]
  19. Schöffenwahl-AV vom 4.3.2009, JMBl. NRW S. 70, zuletzt geändert durch Allgemeinverfügung/Runderlass vom 6.12.2022, MBl. NRW. S. 1001, Nr. 2.7.[]
  20. Amtsbl SH 2022, S. 699, SchlHA 2022, S. 268; AmtsBl. M-V 2022, S. 242.[]
  21. Amtsbl SH 2023, S. 189; SchlHA 2023, S. 25; AmtsBl. M-V 2022, S. 618.[]
  22. Aussonderungsbekanntmachung vom 19.12.1991, AIIMBL S. 884, zuletzt geändert durch Bekanntmachung vom 6.11.2001, AIIMBI. S. 658.[]
  23. Aufschluss für die vollständige Erwerbsminderung gibt die gesetzliche Definition einer max. Arbeitsfähigkeit von drei Stunden/Tag, § 43 Abs. 2 SGB VI.[]
  24. Hasso Lieber, Handbuch für Schöffinnen und Schöffen, 2008, S. 28 unter Hinweis auf BGH vom 30.7.1991, Az.: 5 StR 250/91; zuletzt: Lieber (Fn. 1), S. 59 ff.[]
  25. Gesetz zur Fortentwicklung der Strafprozessordnung und zur Änderung weiterer Vorschriften, BGBl I 2021, S. 2099.[]
  26. Hasso Lieber, Statistik belegt: Zu viele Schöffen gewählt, RohR 2015, S. 43, 47 – berechnet anhand der Zahlen des Statistischen Bundesamts, Fachserie 10 Reihe 2.3, Rechtspflege, Strafgerichte 2013, 2014.[]
  27. Alle Berliner Zahlen: Extremisten im Schöffenamt. Schriftliche Anfrage der Abgeordneten Dr. Petra Vandrey (GRÜNE) vom 17.8.2023, Drucksache / Abgeordnetenhaus Berlin, 19/16508 [Abruf: 14.11.2024].[]
  28. Schöffenwahl-AV vom 4.3.2009, JMBl. NRW S. 70, zuletzt geändert durch Allgemeinverfügung/Runderlass vom 6.12.2022. MBl. NRW. S. 1001, Nr. 2.2.[]
  29. Schöffenbekanntmachung vom 27.10.2022, BayMBl. Nr. 672, Nr. 1.5.[]
  30. Vorbereitung und Durchführung der Wahl und Berufung der Schöffen und Jugendschöffen. Gem. RdErl. vom 20.12.2007, zuletzt geändert durch Gem. RdErl. vom 30.01.2023, MBl. LSA 2023, S. 34.[]
  31. Drucksache / Abgeordnetenhaus von Berlin, 19/16508 (Fn. 27).[]
  32. Vgl. Lieber, Die Verwaltungsvorschriften der Länder zur Schöffenwahl, RohR 2020, S. 11.[]
  33. Sind Laienrichter oft überfordert?, LTO vom 17.1.2023 [Abruf: 14.11.2024].[]
  34. So ist es, ich zu sein, Schöffe, Fluter vom 30.5.2023 [Abruf: 14.11.2024].[]
  35. Gerd Nowakowski, Schöffe auch mit über 70?, Tagesspiegel vom 11.1.2023 [Abruf: 14.11.2024].[]
  36. 38 neue Schöffen am Amtsgericht, Osthessen News vom 16.1.2024 [Abruf: 14.11.2024].[]
  37. Catrin Würz, Im Dienst der Gerechtigkeit – warum zwei Hoyerswerdaer Schöffen bleiben wollen, Lausitzer Rundschau vom 17.4.2023 [Abruf: 14.11.2024].[]
  38. Emil Nefzger, Mit diesen Jobs verdienst Du bis zu 4.400€ netto nebenbei, Finanztip vom 30.10.2023 [Abruf: 14.11.2024].[]
  39. Videoreihe bei Schöffen TV [Abruf: 14.11.2024].[]
  40. Vgl. z. B. die Stellungnahme der Deutschen Justizgewerkschaft zum Referentenentwurf des BMJ zur Änderung des § 32 GVG [Abruf: 14.11.2024].[]
  41. Markus Sehl, Schöffen-Superwahljahr 2023. Schöffen wir das wirklich?, LTO vom 23.2.2023 [Abruf: 14.11.2024].[]

Über die Autoren

  • Hasso Lieber

    Geschäftsführender Gesellschafter PariJus gGmbH, Rechtsanwalt, Staatssekretär a. D., Generalsekretär European Network of Associations of Lay Judges, 1993–2017 Vorsitzender Bundesverband ehrenamtlicher Richterinnen und Richter e. V., 1989–2022, Heft 1 Redaktionsleitung „Richter ohne Robe“

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