Die Schöffenwahl 2023 im Lichte der Rechtsprechung
Besprechung der Entscheidungen des VG Düsseldorf, VG Gießen, OVG Sachsen
Von Hasso Lieber, Rechtsanwalt, PariJus gGmbH
Abstract
Die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung legt bei der Aufstellung der Vorschlagsliste häufig einen zu engen Rahmen an die Entscheidungsfreiheit der kommunalen Gremien bei der Auswahl befähigter Personen für das Schöffenamt und reduziert sie auf die Prüfung der formellen gesetzlichen Voraussetzungen für das Amt. Unklarheiten bei der Zahl der vorzuschlagenden Personen sollte der Gesetzgeber beseitigen. Den Freiraum der kommunalen Vertretungen bei der Wahl der Vertrauenspersonen für den Wahlausschuss betont das Sächsische OVG.
When drawing up the list of nominees, the case law of the administrative courts often places too narrow a framework on the freedom of decision of the municipal bodies when selecting qualified persons for the office of lay judge and reduces it to examining the formal legal requirements for the office. The legislator should eliminate ambiguities in the number of persons to be proposed. The Saxon Higher Administrative Court emphasises the freedom of local councils in the selection of the confidants for the election committee.
I. Recht auf Zugang zu öffentlichen Ämtern
Schöffen bekleiden ein öffentliches Amt im Sinne des Art. 33 Abs. 2 GG, zu dem jeder Deutsche den gleichen Zugang hat – unter Berücksichtigung seiner Eignung und Befähigung. Gerichte mit ehrenamtlichen Richtern (§ 1 DRiG) sind die besonderen Organe, mit denen die Zivilgesellschaft nach Art. 20 GG Staatsgewalt ausübt. Die Auswahl der geeigneten und befähigten Personen, die das Amt auch tatsächlich ausüben können, wird von der Rechtsprechung oft auf die formalen Eignungskriterien reduziert. Die Befähigungskriterien, die über die formale Eignung zum Amt hinausgehen, bleiben häufig unbeachtet. Dass zum Richteramt mehr gehört als Alter, Wohnort oder Zahlungsfähigkeit, macht seit langem die bayerische Verwaltungsvorschrift zur Wahl der Schöffen deutlich: „Das verantwortungsvolle Amt eines Schöffen verlangt in hohem Maße Unparteilichkeit, Selbstständigkeit und Reife des Urteils, aber auch geistige Beweglichkeit und – wegen des anstrengenden Sitzungsdienstes – körperliche Eignung.“1 Der Maßstab hat sukzessive Eingang in Verwaltungsvorschriften anderer Bundesländer gefunden.2 Wäre allein die Einhaltung der formalen Wählbarkeitskriterien Grundlage der Entscheidung der Gemeindevertretung, bedürfte es der Zwei-Drittel-Mehrheit zum Beschluss der Vorschlagsliste nicht. Die besondere Verantwortung gerade der kommunalen Vertretungen spiegelt die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung nicht immer ausreichend wider. In der Schöffenwahl 2023 setzte sich diese Rechtsprechung fort.
So muss die Entscheidung des VG Düsseldorf in formaler wie inhaltlicher Hinsicht kritisch betrachtet werden.3 Das VG schreibt den „Vertretungen der Kreise und kreisfreien Städte“ die Zuständigkeit zu, die Vorschlagslisten für die Wahl zum Schöffen aufzustellen, die jedoch allen (auch kreisangehörigen) Gemeinden (§ 36 GVG) bzw. für die Jugendschöffen dem Jugendhilfeausschuss (§ 35 Abs. 1 JGG) obliegt. An die Vorschlagsliste legt das Gericht Maßstäbe an wie an einen Verwaltungsakt, bei dem auf eine Begründung und Darlegung der maßgeblichen Erwägungen verzichtet werden könne. Die Aufstellung der Vorschlagsliste ist jedoch Teil einer zweistufigen Wahl,4 bei der – wie bei Wahlen üblich – eine Begründung nicht erforderlich ist. Die Wahl in die Vorschlagsliste führt zwar nicht unmittelbar zur Übernahme des Amtes, ist aber zwingende Voraussetzung für den abschließenden Entscheid im Schöffenwahlausschuss. Die Motivation der Mitglieder der Vertretung oder des Jugendhilfeausschusses bei der Wahl einzelner Bewerber entzieht sich der gerichtlichen Überprüfung.
Überprüfbar ist hingegen, ob die Wahl regelgerecht durchgeführt wurde. Deshalb ist die Frage, ob in dem Hinweis des Ratsmitgliedes O., der zur Verfehlung der Zwei-Drittel-Mehrheit führte, ein Regelverstoß liegt. Dem Einwand ist zu entnehmen, dass O. die Zuverlässigkeit der Bewerberin bezweifelt, weil sie schon einmal ein justizielles Ehrenamt zurückgegeben habe, in das sie ebenfalls von der Vertretung gewählt worden sein musste. Bei der Gewichtung des in Rede stehenden Einwandes ist zu beachten, dass wegen des strikten Grundsatzes des gesetzlichen Richters und der damit verbundenen richtigen Besetzung des Gerichts die Disziplin zur Ausübung des Amtes keine nur nebensächliche Rolle spielt. Eine solche Abwägung der ineinandergreifenden Aspekte des „Ob“ und „Wie“ eines möglichen Regelverstoßes lässt die Entscheidung vermissen.
Diese Erörterung ersetzt das VG dadurch, dass es von einem Anspruch der Bewerberin ausgeht, dem Schöffenwahlausschuss vorgeschlagen zu werden. Nur die gesetzlichen Gründe der §§ 31 bis 35 GVG sollen dabei eine Rolle spielen. Diese Annahme ist falsch. Die Verwaltungsvorschriften vieler Bundesländer setzen mit den zitierten Befähigungskriterien die Anforderungen des Art. 33 Abs. 2 GG hinsichtlich des Schöffenamtes um.5 Die Vorschlagsliste ist keine Sammelliste der Bewerbungen, aus denen nur diejenigen aussortiert werden, bei denen die formalen Voraussetzungen des GVG nicht vorliegen. Aus dem Begriff der „Wahl“ folgt zum einen, dass der Vertretung von der Verwaltung mehr Bewerbungen vorgelegt werden müssen, als Personen zu wählen sind;6 zum anderen weist er auf die qualitative Auswahlpflicht des wählenden Organs hin. Das zweistufige Wahlverfahren wurde 1950 eingeführt – in Abänderung der bis dahin erfolgten Wahl aus der Urliste, d. h. der Gesamtheit aller wählbaren Bürger einer Gemeinde –, weil „[k]ünftighin (…) es also die Gemeindevertretungen in der Hand haben [sollen], durch Wahl besonders geeignete, besonders tüchtige Laien für die Mitwirkung in der Strafrechtspflege zu präsentieren“, wie Bundesjustizminister Thomas Dehler (FDP) die Reform auf den Punkt brachte.7 Damit wird dem vom VG nicht zitierten Teil von Art. 33 Abs. 2 GG des gleichen Zugangs zu den öffentlichen Ämtern (nur) unter der Bedingung von Eignung und Befähigung Rechnung getragen. Über das Vorliegen dieser – nach der Vorstellung des Gesetzgebers notwendigen – Voraussetzungen entscheiden im ersten Teil des Wahlverfahrens die kommunalen Gremien.
Bei der Schöffenwahl 2023, die von einer undifferenzierten, offiziell betonten „niederschwelligen“ Mobilisierung zahlreicher Bewerber geprägt war, kam den kommunalen Gremien im besonderen Maß die Aufgabe zu, eine qualifizierte Auswahl der Personen für die Vorschlagsliste zu treffen. Dass dies mit zunehmender Größe der Gemeinde immer schwieriger wird, ist unbestritten. Die Auffassung des VG, dass jeder, der die Kriterien erfülle, einen Anspruch habe, auf die kommunale Vorschlagsliste gesetzt zu werden, macht die nachfolgende Wahl von befähigten Personen durch den Wahlausschuss schwierig bis unmöglich. Viele Gemeindevertretungen (weniger die Jugendhilfeausschüsse) haben angesichts der großen Zahl von Bewerbern – statt des Doppelten der erforderlichen Zahl in Einzelfällen bis zum Fünffachen – alle einfach „durchgewunken“. Nicht nur die „Angst vor der Entscheidung“ wird durch den Beschluss des VG gestärkt, sondern auch die Aufgabe unmöglich gemacht, wegen verfassungsfeindlicher Gesinnung oder aus sonstigen Gründen ungeeignete Personen auszufiltern. Der Zivilgesellschaft stehen nach der Gesetzeslage (§ 37 GVG) im Laufe des Verfahrens außer Hinweisen zu den förmlichen Voraussetzungen bei der Auflegung der Vorschlagslisten keine weiteren Möglichkeiten gegen die Vorschläge der Vertretungen zu, sodass die qualitative Verantwortung bei den vorschlagenden Gremien bleibt – wie die folgende Entscheidung des VG Gießen verdeutlicht.
II. Aufstellung der Vorschlagsliste
Nach dem Sachverhalt sind der Stadt „18 Schöffen zugewiesen“; nach Beteiligung der Ortsbeiräte und einer Welle neuer Bewerbungen werden in die Vorschlagsliste alle 50 Interessenten in die Vorschlagsliste aufgenommen – wogegen sich ein Bewerber mit dem Argument wendet, dass seine Chancen auf das Amt gemindert werden. Das VG Gießen betont zunächst zu Recht, dass die Vertretung in der Art und Weise, wie geeignete und befähigte Bewerber für das Schöffenamt akquiriert werden, in den Grenzen der gesetzlichen Vorgaben frei ist.8 Ortsbeiräte und gesellschaftliche Organisationen unterstützen die Vertretung aufgrund größerer Orts- und Bürgernähe bei der Beurteilung der Eignung und Befähigung, ohne die Letztverantwortlichkeit der Vertretung zu berühren. Dass Selbstbewerbungen berücksichtigt werden können, ist selbstverständlich. Eine Reduzierung allein auf Vorschläge der Fraktionen würde der angemessenen Berücksichtigung aller „Gruppen der Bevölkerung“ (§§ 36 Abs. 2, 42 Abs. 2 GVG) widersprechen.
Allerdings setzt das Willkürverbot dieser Freiheit Grenzen. Das Gericht verneint ein willkürliches Handeln der Stadtverordnetenversammlung (SVV); allerdings fehlt der Entscheidung für die Beurteilung die Mitteilung und Prüfung eines entscheidenden Umstandes. Nach § 43 Abs. 1 GVG wird die erforderliche Zahl von Schöffen durch den Präsidenten des Land- bzw. Amtsgerichts bestimmt. In die Vorschlagsliste des Amtsgerichts sind mindestens doppelt so viele Personen aufzunehmen, wie nach § 43 bestimmt sind (§ 36 Abs. 4 GVG). Der Präsident verteilt die auf die einzelnen Gemeinden des Amtsgerichtsbezirks entfallenden Anteile entsprechend der Einwohnerzahl. Die vorliegenden Entscheidungsgründe machen nicht deutlich, ob es sich bei den 18 der Stadt zustehenden Vorschläge um die „erforderliche Zahl von Schöffen“ oder die bereits (mindestens) verdoppelte Zahl von Personen handelt, die in die Vorschlagsliste aufzunehmen sind.
Jahrzehntelange Schulungen der für die Schöffenwahl verantwortlichen Mitarbeiter der Gemeinden und Jugendämter haben unterschiedliche Verfahrensweisen in der Verteilung der gemeindlichen Anteile offenbart.9 Teilweise wird den Gemeinden des Amtsgerichtsbezirks vom zuständigen Präsidenten die auf sie entfallende erforderliche Zahl der Schöffen (§ 43 Abs. 1 GVG) mitgeteilt. Die Vertretung nimmt dann mindestens doppelt so viele Personen, „wie nach § 43 bestimmt sind“, auf ihre Vorschlagsliste (Variante 1). Andere folgern aus dem Wortlaut, wonach die Vorschlagsliste „des Amtsgerichtsbezirks“ mindestens die doppelte Anzahl von Personen enthalten muss, dass der Präsident nach Feststellung der erforderlichen Zahl diese für die Vorschlagsliste des Amtsgerichtsbezirks verdoppelt und dann anteilig auf die Gemeinden verteilt. Der den Gemeinden mitgeteilte Anteil stellt somit bereits das Doppelte der erforderlichen Zahl von Schöffen dar (Variante 2). Sehr oft wird in der Mitteilung an die Gemeinden nicht deutlich gemacht, auf welcher Basis die Zahl beruht. Im konkreten Fall ist nicht sicher, ob es sich bei den 18 Vorzuschlagenden um die (einfache) erforderliche oder bereits verdoppelte Zahl von Schöffen handelt.
Für die weitere Beurteilung des Falles ist von Bedeutung, wie weit nach dem Begriff „mindestens“ das Doppelte überschritten werden darf. Die Rechtsprechung verhält sich hierzu bislang nicht. Der reine Wortlaut setzt logisch die Grenze beim Dreifachen, sodass bei 18 Personen als einfacher Zahl das Dreifache der Vorschläge erst bei 54 Personen erreicht wäre. Stellt die Zahl 18 hingegen bereits das Doppelte der erforderlichen Personen dar, wären die 50 Bewerber auf der Vorschlagsliste mehr als das 5 ½-fache der erforderlichen Zahl. Hierzu hat das VG keine Feststellungen getroffen. Eine so hohe Überschreitung der auf die Gemeinde entfallenden Zahl wäre bereits nach quantitativen Maßstäben willkürlich. Die Rechtsprechung des BGH zum gesetzlichen Richter verlangt eine Entscheidung der Vertretung, die erkennen lässt, dass sie „durch eine individuelle Vorauswahl die Gewähr für die Heranziehung erfahrener und urteilsfähiger Personen als (…) Schöffen bietet“.10 Dieser Pflicht ist die SVV schon mit dem einfachen „Durchwinken“ von 50 Bewerbern nicht nachgekommen; auf jeden Fall wäre das unkommentierte Weiterleiten des über Fünffachen der erforderlichen Zahl willkürlich – für das VG auch im einstweiligen Rechtsschutzverfahren ohne Mühe erkennbar. Im Übrigen macht die Vorgabe „mindestens das Doppelte“ deutlich, dass der beiläufige Hinweis des Gerichts in der Entscheidung, die übermittelte Zahl dürfe von den Gemeinden nicht verändert werden, nicht der gesetzlichen Regelung entspricht.
III. Wahl der Vertrauenspersonen
Die Auswahl der Vertrauenspersonen für den Schöffenwahlausschuss sorgt immer wieder für strittige Fragen. Jeder zum Schöffen wählbare Bürger im Bezirk des Amtsgerichts kann zur Vertrauensperson bestimmt werden (§ 40 Abs. 3 Satz 1 GVG). In der Praxis wird die große Mehrheit der Vertrauenspersonen aber von den Fraktionen der Vertretungen in den kreisfreien Städten und Kreisen gestellt. Rufe nach größerer Beteiligung und Verantwortung der Zivilgesellschaft bei der Schöffenwahl blieben bislang unerhört. Im zu entscheidenden Fall macht eine Fraktion geltend, auf jeden Fall bei den Vertrauenspersonen berücksichtigt zu werden, und dass nur Fraktionen berechtigt seien, Vorschläge zur Wahl zu machen. In dankenswerter Klarheit macht das Sächsische OVG deutlich, dass abseits jeder Vereinbarung zwischen Fraktionen oder der Regelung durch kommunale Satzungen die Beurteilung der Eignung und Befähigung der Vertrauenspersonen in der uneingeschränkten Verantwortung eines jeden kommunalen Vertreters liegt.11 Kommunalrechtliche Regeln, die eine Bindung an Mehrheitsverhältnisse in Kreistag bzw. Stadtrat vorsehen oder zulassen, müssen hinter die bundesrechtlichen Regeln des GVG zurücktreten. Das OVG hat die Entscheidung zwar vorrangig unter dem Aspekt der Freiheit des Mandats getroffen, damit aber auch die Bedeutung des Schöffenamtes unterstrichen. Schon die erforderliche Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen in der wählenden Vertretung macht deutlich, welch hohes Maß an Vertrauen in die Eignung der Vertrauenspersonen bestehen muss. Jedes Mitglied einer Vertretung ist demnach frei in der Entscheidung, welche Personen für geeignet gehalten werden, qualifizierte und gesetzeskonforme Entscheidungen im Schöffenwahlausschuss zu treffen. Damit stärkt das OVG nicht nur die Freiheit des Mandats, sondern auch die Stellung und das Ansehen der Schöffen.
Zitiervorschlag: Hasso Lieber, Die Schöffenwahl 2023 im Lichte der Rechtsprechung. Besprechung der Entscheidungen des VG Düsseldorf, VG Gießen, OVG Sachsen, in: LAIKOS Journal Online 2 (2024) Ausg. 2, S. 67-69.
- Vorbereitung der Sitzungen der Schöffengerichte und Strafkammern (Schöffenbekanntmachung) vom 27.10.2022, Nr. 9.3 (BayMBl. Nr. 672).[↩]
- NRW: Schöffenwahl-AV, zuletzt geändert durch Allgemeinverfügung/Runderlass vom 6.12.2022 (MBl. NRW. S. 1001), Nr. 2.6; Sachsen: VwV Schöffen- und Jugendschöffenamt vom 3.1.2023 (SächsABl. S. 93), Nr. 10b.[↩]
- VG Düsseldorf, Beschluss vom 26.6.2023, Az.: 20 L 1147/23., in dieser Ausgabe S. 81.[↩]
- Herbert Mayer, in: Kissel/Mayer, GVG, 10. Aufl., 2021, § 36 Rn. 4.[↩]
- Übersicht über die Verwaltungsvorschriften.[↩]
- Thomas Schuster, in: Münchener Kommentar zur StPO, Bd. 3/2, 2018, § 36 GVG Rn. 4.[↩]
- BT-PlPr. 1/43 vom 1.3.1950, S. 1435A.[↩]
- VG Gießen, Beschluss vom 30.8.2023, Az.: 8 L 1974/23.GI, in dieser Ausgabe S. 82.[↩]
- Vgl. dazu Hasso Lieber, Die Verantwortung der Gemeinden und Kreise bei der Schöffenwahl 2023, 2022, S. 33.[↩]
- BGH, Urteil vom 30.7.1991, Az.: 5 StR 250/91, BGHSt 38, S. 47.[↩]
- OVG Sachsen, Beschluss vom 2.10.2023, Az.: 4 B 173/23, in dieser Ausgabe S. 80.[↩]