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Das richterliche Ehrenamt im Spiegel europäischer Geschichte und Institutionen

Von Hasso Lieber, Rechtsanwalt, PariJus gGmbH

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Abstract
Die Beteiligung der Zivilgesellschaft an der Rechtsprechung ist ein europäisches Prinzip, das sich über die Jahrhunderte entwickelt hat und ein wesentliches Merkmal liberaler Bestrebungen war. Trotz begrenzter Kompetenzen der Europäischen Union und ihrer Gremien ist das Thema nach wie vor virulent.

The participation of civil society in jurisdiction is a European principle that has developed over the centuries and has been an essential feature of liberal endeavours. Despite limited competences of the European Union and its bodies, the issue is still virulent.

In der Geschichte waren das Recht und seine tragenden Organisationen zunächst kleinräumig. Die griechischen Poleis der Antike, die germanischen Stämme, die Städte und Fürstentümer in Mitteleuropa – sie alle hatten „ihr“ Recht und ihre Gerichtsbarkeit. Größere Rechtsräume kamen durch die Eroberung fremder Territorien zustande, mit denen das Recht des Siegers Einzug hielt; die Herrschaft wurde auch durch einheitliche Rechtsregeln gesichert. Aber es gab auch friedliche, weil notwendige Anlässe, Recht in größeren Dimensionen zu vereinbaren, z. B. wenn europäischer und interkontinentaler Handel nach Rechtssicherheit durch einheitliches Recht verlangte. So gehen Seerecht und Seegerichtsbarkeit bis ins Altertum (Rhodisches Seerecht) zurück. Da Recht nur funktioniert, wenn es auch durchgesetzt werden kann, war mit dem geltenden Recht zugleich die Frage verbunden, wer über die Organe zu seiner Durchsetzung verfügen konnte – der Fürst, der Diktator, die Kirche oder die Zivilgesellschaft durch ihre Repräsentanten.

Recht und Gerichtsbarkeit waren über Jahrhunderte viel europäischer, als man dies heute vermuten möchte. Vom antiken Griechenland mit der (auch) rechtsprechenden ekklesia (Volksversammlung) und den aus der Bevölkerung ausgelosten Dikastai (von Dike, Göttin der personifizierten Gerechtigkeit) über das Geschworenengericht des klassischen Rom bis zum germanischen Thing (Versammlung aller freien, d. h. waffentragenden Männer) ziehen sich zivilgesellschaftliche Gerichte durch die europäischen Jahrhunderte. Wer zur „Zivilgesellschaft“ gehörte, unterlag dabei sehr unterschiedlichen Vorstellungen. Frauen, Unfreie, Fremde gehörten – europaweit – in aller Regel nicht dazu. Existenz wie Ausformung der Teilhabe an der Rechtsprechung waren immer zugleich ein Kampf um die Verteilung von Macht und Herrschaft zwischen (geborenen, erkämpften oder gewählten) Inhabern des Machtapparates und den Machtunterworfenen.

Verschriftlichung und die damit einhergehende Vereinheitlichung des Rechts waren maßgebliche Faktoren, die die Zusammensetzung der Gerichte und die Teilhabe an der Rechtsprechung in der Geschichte beeinflussten. Die Gesetzesstele des babylonischen Königs Hammurapi (ca. 1700 v. Z.), die mosaischen Gesetzestafeln mit den 10 Geboten oder das römische Zwölf-Tafel-Gesetz aus der Mitte des 5. Jahrhunderts v. Z. sind klassische Beispiele für die Beständigkeit „geschriebenen“ Rechts. Die Überwindung des (ungeschriebenen) Gewohnheitsrechts förderte insbesondere im römischen Recht die Herausbildung des Juristenstandes. Da Recht notwendigerweise abstrakt ist, muss es auf den Einzelfall angewandt und ggf. in der Bedeutung auf diesen Fall ausgelegt werden. Mündlich überliefertes Recht ändert sich durch Erinnerung (oder Vergessen); das geschriebene Recht bedarf der ausdrücklichen Veränderung. Die Entwicklung der Methoden zur Auslegung und Anpassung und die damit verbundene Frage, ob die Berücksichtigung der Veränderungen im Wege der Auslegung der bestehenden Regeln oder nur durch ausdrückliche Änderung des Gesetzes geschehen kann, förderte die Verwissenschaftlichung des Rechts. Diese entwickelte die Hermeneutik, die Kunst der Auslegung, aus einem Text herauszulesen, was nicht (wörtlich) in ihm steht, aber dessen Inhalt ist. Man fragt nach der Bedeutung des Wortlautes (grammatikalische Auslegung), dem Zusammenhang mit anderen Regeln (systematische Auslegung), den Motiven der Entstehung des Gesetzes (historische Auslegung) oder Sinn und Zweck des Gesetzes (teleologische Auslegung, von gr. telos = das Ziel).

Die Verbreitung des Rechts und der Gerichtsorganisation war eng mit den dominanten Herrschaftsstrukturen in Europa verbunden, z. B. der Untergang des Römischen Reiches mit dem Aufstieg germanischer Stämme, der seinen Höhepunkt unter dem Franken Karl der Große und dem von ihm geschaffenen Großreich fand (was ihm schon zu Lebzeiten den Beinamen Pater Europae – „Vater Europas“ – einbrachte). Karl sind im Bereich der Rechtsprechung und -setzung zwei bedeutende Reformen zuzuschreiben. Im Thing wurde die Volksversammlung aller freien Männer durch sieben urteilende Schöffen (ahd. Sceffino) ersetzt, die unter der Leitung des Grafen oder Schultheißen als „Richtherr“ (Richter) über Rechtsstreitigkeiten und Straftaten entschieden. Der Richter hatte kein Stimmrecht, sondern leitete die Verhandlung und verkündete das von den Schöffen gefundene Urteil, das damit Rechtskraft erlangte. Seine Begründung fand die Reform vor allem darin, dass die freien Männer unter der Pflicht zur Teilnahme am Thing ebenso litten wie unter der Heerpflicht. Karl benötigte die Männer für seine Feldzüge gegen Slawen und Sachsen, sowie nach Italien und Spanien, mit denen er sein Territorium vergrößerte. Dass er den Aufstand gegen Papst Leo III. niederschlug, brachte ihm die Kaiserwürde und die Nachfolge der (west-)römischen Caesaren ein. Die ständige Erweiterung des Reichsgebietes machte eine weitere Reform notwendig. Karl begann mit der Sammlung, Ergänzung und Vereinheitlichung germanischen Rechts, was nach ihm periodisch fortgesetzt wurde.

Sammlungen des mündlich überlieferten Rechts in schriftlicher Form schlugen sich ab dem 13. Jahrhundert in verschiedenen Rechtsspiegeln nieder; die bekanntesten sind der Sachsenspiegel des Eike von Repgow, der Deutschen- sowie der Schwabenspiegel. Dabei wurden germanische Rechtsregeln um einige römisch-rechtliche und kanonische (kirchenrechtliche) Einflüsse angereichert. Die Tradition dieser Rechtsbücher ermöglichte weiterhin die Anwendung durch Laien (gr. laikós = aus dem Volke stammend), wobei man sich diese in der Anwendung des Rechts als durchaus kundig vorstellen muss. Mit dem Sachsenspiegel dehnte sich das „Magdeburger Recht“ (als ius teutonicum) nach Osteuropa bis zu einer Linie von Vilnius/Kaunas (Litauen) bis Minsk (Belarus) und Kiew (Ukraine) aus. Den Schöffengerichten stand mit dem Magdeburger Schöppenstuhl ein „Oberhof“ zur Verfügung, von dem Rechtsrat eingeholt werden konnte, sodass dort die Interpretationshoheit über dieses Recht lag. In Polen und der Ukraine galt dieses Recht bis in das 19. Jahrhundert hinein.

Die immer noch bestehende Rechtszersplitterung begünstigte nach seiner „Wiederentdeckung“ in Italien die Rezeption (Übernahme) des römischen Rechts in Kontinentaleuropa als neben den Partikularrechten entstehendes „allgemeines Recht“ (ius commune). Die (vor allem an der Universität in Bologna ausgebildeten) Juristen fanden Anstellung insbesondere an den Fürstenhöfen. Als Berufungsinstanz verwarfen sie viele Schöffenurteile und verdrängten die Schöffengerichte nach und nach – auch weil diese, wie Mitteis/Lieberich kritisch schreiben, oft die Waffen vor der Rabulistik (Spitzfindigkeiten, Wortklauberei) der vielfach landfremden Advokaten streckten.1 Die Peinliche Halsgerichtsordnung2 Kaiser Karls V. (Constitutio Criminalis Carolina), 1532 auf dem Reichstag zu Regensburg verkündet, war das erste systematisch erarbeitete Strafgesetzbuch, das mit dem Inquisitionsprozess (lat. inquisitio = Untersuchung) die Verfolgung „von Amts wegen“ einführte und den privaten Prozess verdrängte. Der Prozess war geheim, auch für den Angeklagten; die Schöffen bildeten mit dem jetzt stimmberechtigten Richter ein Kollegialgericht, wurden aber beständig zurückgedrängt. Als Beweis galt das Geständnis, das ggf. unter der Folter abgelegt wurde. Der Strafprozess in Europa teilte sich nun in das (auf altfränkischem Recht beruhende) englische Jury-Schwurgericht und das kontinentale Schöffengericht unter der Leitung des in Diensten des Landesherrn stehenden Berufsrichters, für den es keine richterliche Unabhängigkeit gab. Die Verdrängung der zivilgesellschaftlichen Richter (Schöffen, Geschworene) durch wissenschaftliche, aber auch abhängige Juristen beeinflusste sowohl die Entstehung von Recht als auch deren Anwendung. Rechtsfragen – wer wollte dies bestreiten – sind eben immer auch Machtfragen.

Das Jury-Gericht erschien den Freiheitsbewegungen des ausgehenden 18. und des 19. Jahrhunderts das bessere Modell, sodass die Französische Revolution nach 1789 das (modifizierte) Jury-Gericht in Frankreich sowie in den von Napoleon besetzten Gebieten einführte. Die Paulskirchenverfassung von 1849 garantierte das Jury-Schwurgericht, trat aber nie in Kraft. „Schwur- oder Schöffengericht“ war eine der zentralen Fragen des 19. Jahrhunderts. Nach der Entstehung des Deutschen Reiches 1871 gab es das klassische Schwurgericht und das Schöffengericht nebeneinander, bevor das Schwurgericht 1924 durch die sog. Emminger-Reform3 per Notverordnung abgeschafft wurde. Nach dem 2. Weltkrieg bestand das Schwurgericht in Bayern noch bis zum Rechtsvereinheitlichungsgesetz 1950.

Das 20. Jahrhundert ist in Deutschland vor allem von der Differenzierung eigenständiger Gerichtsbarkeiten geprägt (Jugend-, Arbeits-, Sozial-, Verwaltungs-, Finanzgerichte), in denen auch weiterhin ehrenamtliche Richter zum Einsatz kommen, die weitgehend mit den streitigen Gegenständen in tatsächlicher Hinsicht und ihren rechtlichen Auswirkungen vertraut sind. Ursprünge dieser mit sachkundigen Richtern besetzten Gerichte gehen in der Handelsgerichtsbarkeit schon bis in die beginnende Neuzeit zurück (Edikt Kaiser Maximilians I. von 1508).

Die Beteiligung ehrenamtlicher Richter als ein in den Jahrhunderten gewachsenes und gelebtes Prinzip in Europa wirft die Frage auf, welche Bedeutung es heute in den europäischen Gremien und Organisationen hat. Ihren Platz im Zusammenwachsen Europas musste sich die Rechtsprechung erst erkämpfen; sie gilt aber weitgehend immer noch als nationales Dominium. Einerseits mag die Vertrautheit der Bürger mit ihrem System der Rechtsprechung ein Grund für nationale Eigenheiten sein; andererseits sind die tatsächlichen Lebensverhältnisse in Europa so miteinander verwoben, dass nach der starken Europäisierung des Rechts auch die Standardisierung (nicht zu verwechseln mit Vereinheitlichung) der Gerichtsverfassung auf der Tagesordnung steht. Einer der vorrangigen Punkte einer künftigen europäischen Ordnung ist der Einfluss der Zivilgesellschaft (des Staatsvolkes) als Träger „aller Staatsgewalt“ auf die Rechtsprechung – sowohl unter dem Gesichtspunkt der Demokratie als auch der (außerjuristischen) Sachkunde. Die tatsächliche Entwicklung ist europaweit gegenläufig. Wesentlicher Grund für die Reduzierung der Mitwirkung zivilgesellschaftlicher Vertreter ist die wachsende Ökonomisierung der Justiz. Schnelle (vor allem sparsame) Erledigung geht vor Gerechtigkeit, wobei das Kriterium der Schnelligkeit nicht einmal eingehalten wird. Elementare Prinzipien wie die richterliche Unabhängigkeit sind in weiten Teilen in fragwürdige Privilegien umgeschlagen, wie Werbeslogans zur Rekrutierung von richterlichem Nachwuchs in Deutschland mit dem Versprechen zeigen: „Work-Life-Balance garantiert.“

Der fatale Trend zum Einzelrichterprinzip muss umgekehrt werden. Systemische Defizite wie die fehlende Diskussion über tatsächliche und rechtliche Würdigungen bis hin zur offenen Instrumentalisierung der staatlichen Funktion für die politische Gesinnung4 verlangen nach einer die richterliche Unabhängigkeit wahrenden Kontrolle innerhalb des Spruchkörpers. Zur Qualität des Urteils durch Diskussion und Abstimmung im Kollegium kommen Vorteile hinzu wie die Nutzung von nicht-juristischem Sachverstand, der Zwang zur Verständlichkeit in Verfahren und Urteil, die Bereicherung durch soziale Kompetenz. Europa könnte einer Justizpolitik, die von Haushältern dominiert wird, durch prozedurale Standards in der Rechtsprechung entgegenwirken – auch bei den Voraussetzungen für das richterliche Ehrenamt. Welche Bedeutung haben die europäischen Gremien derzeit in diesem Kontext?

Dem Europarat gehören (bis auf vier) alle europäischen Staaten an, die mit ihm ein Forum für Debatten über allgemeine europäische Fragen geschaffen haben, vor allem zur Wahrung der Menschenrechte und der Förderung des sozialen und wirtschaftlichen Fortschritts. Mittel zur Umsetzung sind völkerrechtlich verbindliche Abkommen (herausragend die Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK). Einige dieser durch den Europarat geschaffenen Institutionen sind für das richterliche Ehrenamt von Bedeutung.

Der 1959 errichtete Gerichtshof ist seit 1998 ein ständig tagendes Gericht, an den sich Bürger der Mitgliedstaaten – nachdem der innerstaatliche Rechtsweg ausgeschöpft ist – mit Beschwerden wenden können, wenn sie sich in der Achtung ihrer Menschenrechte verletzt wähnen. In diesem Zusammenhang hatte er auch schon über die Rechte ehrenamtlicher Richter zu entscheiden.

Im Verfahren Elezi v. Germany stand im Streit, ob die Kenntnis eines Schöffen von der Anklageschrift den Angeklagten in seinem Recht auf ein faires Verfahren nach Art. 6 EMRK verletzt.5 In dem Verfahren gegen einen Schlepper von Flüchtlingen aus Jugoslawien hatten dessen Schwestern im zuvor verhandelten abgetrennten Verfahren pauschal unter Bezugnahme auf die Anklage die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft „gestanden“. Der EGMR hielt es für erforderlich, in der Hauptverhandlung gegen den Bruder den vollen Inhalt ihrer Geständnisse dadurch zu verdeutlichen, dass den Schöffen der Teil der Anklageschrift ausgehändigt wurde, auf den sich das Geständnis bezog. Sie waren bis dahin die einzigen Verfahrensbeteiligten, die keine vollständige Ausfertigung der Anklageschrift erhalten hatten, den genauen Inhalt des Geständnisses somit nicht kannten. Das Gericht verneinte eine Verletzung des „fair trial“ durch eine Befangenheit der Schöffen.

Die – mögliche – Befangenheit ehrenamtlicher Richter nach Kenntnis eines Presseartikels über den verhandelten Sachverhalt war Gegenstand in dem Verfahren Worm v. Austria.6 Darin ging es um die Frage, inwieweit die Mitglieder eines österreichischen Gerichts – in sonders die Laienrichter – durch verbotene Einflussnahme auf ein Strafverfahren (§ 23 MedienG) beeinflusst werden sollten. Der EGMR stützte die Auffassung des Tatgerichts, der Artikel sei nicht ungeeignet, „zumindest die Laienrichter […] zu beeinflussen“.

Maßstab für die Standards des richterlichen Ehrenamtes ist vor allem Art. 6 EMRK. Im Rahmen dieser Vorschrift äußerte sich der Gerichtshof noch in Entscheidungen aus 2021/22 zur Fähigkeit von Schöffen, bei Mitwirkung an einem früheren Urteil (sog. Vorbefassung) in nachfolgenden Verfahren gegen Beteiligte die notwendige Unvoreingenommenheit zu wahren.7 Die Unvoreingenommenheit der ehrenamtlichen Richter spielt im Rahmen dieser Norm eine besondere Rolle. So hatte der Gerichtshof in einem Strafverfahren gegen ein Regierungsmitglied in Island die Neutralität der dort vom Parlament gewählten Laienrichter zu beurteilen.8 Im Rahmen dieser Entscheidung stellte das Gericht fest, „dass die Beteiligung der Laienrichter für das Verständnis des Sondergerichts im Hinblick auf die Fragen des Falles und ihre Prüfung als nützlich angesehen werden konnte, da sie zu einem gewissen Einblick in politische Angelegenheiten beitrug“. Sachnähe und Erfahrung spielen im Rahmen eines fairen Verfahrens durchaus eine Rolle.

Das gilt auch für ehrenamtliche Arbeitsrichter, die wegen einer bestimmten Eigenschaft (Arbeitgeber und -nehmer) an einem Verfahren teilnehmen. Nach Ansicht des EGMR können die ehrenamtlichen Richter und die Organisationen, von denen sie nominiert wurden, bei objektiver Betrachtung keine anderen Interessen verfolgen als sicherzustellen, dass die strittigen Arbeitsbedingungen korrekt geprüft und bewertet würden und Art. 11 EMRK korrekt ausgelegt und angewendet würde.9 Es wäre falsch anzunehmen, dass die Ansichten der ehrenamtlichen Richter zu diesen Fragen durch ihre Zugehörigkeit zur nominierenden Organisation determiniert wären. Insoweit deckt sich die Auffassung des europäischen Gerichts mit der hier vertretenen.

Ein international angesehenes und unabhängiges Beratungsorgan in Verfassungsfragen ist die sog. Venedig-Kommission. Initiator war 1990 Antonio La Pergola, ein italienischer Professor, Richter und Politiker. Die Kommission tagt viermal im Jahr und wird heute von 62 Staaten als Vollmitglied getragen (46 europäische Mitgliedstaaten außer Belarus, das assoziiert ist, und Russland, das 2022 ausgeschlossen wurde, sowie 16 außereuropäische Staaten, zudem 6 Staaten mit Beobachterstatus). Rechtsstaatlichkeit (rule of law, État de droit) ist eine der Säulen der Arbeit der Kommission. Mit der Teilhabe der Zivilgesellschaft an der Rechtsprechung als Element einer demokratisch verfassten Justiz hat sich die Kommission bislang noch nicht befasst, definiert aber als wichtiges Momentum: Rechtssicherheit beinhaltet die Akzeptanz des Rechts. Recht muss sicher, vorhersehbar und leicht zu verstehen sein. Was für die Sprache des Gesetzes gilt, gilt für Rechtsprechung, Verhandlung und Urteil erst recht. Es könnte eine der künftigen Aufgaben des Europäischen Netzwerks der Vereinigungen Ehrenamtlicher Richter (ENALJ) sein, mit der Venedig-Kommission (oder einzelnen Mitgliedstaaten) zu diesem Thema Kontakt aufzunehmen.

Die Staatengruppe des Europarates gegen Korruption führt Evaluationsrunden in einzelnen Staaten zur Bewertung ihrer Anfälligkeit für Korruption durch. In diesem Zusammenhang hat sich GRECO in Deutschland auch mit ehrenamtlichen Richtern beschäftigt. Im Vierten Evaluierungsbericht (2014) über Deutschland befasst sich die Gruppe mit der Justiz. Dazu wurde ich als Sachverständiger in einer Anhörung über die Situation der ehrenamtlichen Richter in Deutschland befragt. Im Abschlussbericht des GRECO Evaluation Teams (GET) heißt es dazu:10

148. Schließlich möchte das GET betonen, wie wichtig es ist, dass Maßnahmen […] zugunsten von ehrenamtlichen Richtern ergriffen werden. Während seines Vor-Ort-Besuchs stellte das GET mit Sorge fest, dass ehrenamtliche Richter nicht systematisch eine Grundausbildung oder einleitende Informationen zu ihrer Rolle und dem von ihnen erwarteten Verhalten erhalten.

191. Darüber hinaus ist das GET der Ansicht, dass die Einführungskurse und andere für ehrenamtliche Richter organisierte bewusstseinsschärfende Maßnahmen noch zu wünschen übrig lassen und dass es von größter Bedeutung ist, dass auch ehrenamtliche Richter, die im deutschen Gerichtssystem eine wichtige Rolle spielen, von adäquaten Fortbildungsveranstaltungen profitieren können.

Empfehlungen und Folgemaßnahmen:
252. In Anbetracht der Erkenntnisse des vorliegenden Berichts empfiehlt GRECO Deutschland Folgendes: Im Hinblick auf Richter v. (i) eine Zusammenstellung der bestehenden Regelungen für ethisches/berufliches Verhalten – begleitet durch Erläuterungen und/oder praktische Beispiele, einschließlich Orientierungshilfen zu Interessenkonflikten und damit verbundenen Fragen – zu entwickeln, allen Richtern auf wirksame Weise mitzuteilen und der Öffentlichkeit leicht zugänglich zu machen, und (ii) diese Zusammenstellung durch praktische Maßnahmen zur Umsetzung der Regelungen zu ergänzen. Darunter fallen unter anderem gezielte Fortbildungsmaßnahmen und vertrauliche Beratungsangebote sowohl für Berufsrichter als auch für ehrenamtliche Richter.

Auf dem Europäischen Tag in Stockholm 2017 führte der schwedische Justizminister in seinem Vortrag zu diesem Thema aus, dass seit 2016 alle ehrenamtlichen Richter in Schweden verpflichtet sind, an Einführungsveranstaltungen und fortlaufenden Schulungen der Gerichte teilzunehmen. So konsequent wie Schweden ist Deutschland nicht. Von staatlicher Seite ist seitdem wenig geschehen.

Der Europarat könnte ein Partner für die ehrenamtlichen Richter in Europa sein, um eine Strategie gegen das langsame Verschwinden der Beteiligung der Bevölkerung in der Rechtsprechung in nahezu allen Staaten auf dem Kontinent zu entwickeln. Bereits 1972 schrieb Helmut Ostermeyer, Vordenker einer demokratischen Justiz, in seinem Buch „Die juristische Zeitbombe“: Eine Einschränkung der Laienbeteiligung bedeutet also – das lehrt die geschichtliche Entwicklung – immer Abbau der Demokratie und des Menschenrechtsschutzes.

Der zweite große Partner in Europa ist die EU. Das Europäische Netzwerk der Vereinigungen Ehrenamtlicher Richter (ENALJ) und die „Europäische Charta der ehrenamtlichen Richter“ verdanken ihre Existenz der Unterstützung der EU-Kommission. Durch die Förderung des Projekts einer Europäischen Charta hat die Kommission anerkannt, dass die Partizipation an der Rechtsprechung ein potenzielles Anliegen der EU ist. Daran muss weitergearbeitet werden. Aber: Justiz, vor allem Justizorganisation, ist nationale Angelegenheit in der EU. Lange Zeit bestand – außer der klassischen Rechtshilfe – keine justizielle Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten. Erst 1993 kam es mit dem Vertrag von Maastricht zum „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“, der neben der Europäischen Gemeinschaft (EG) mit ihren vergemeinschafteten Politikbereichen und der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) die dritte Säule „Justiz und Inneres“ bildete. Mit dem am 2.10.1997 unterzeichneten Vertrag von Amsterdam wurde die „Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen“ (PJZS) begründet. Insbesondere die zunehmende Öffnung der Binnengrenzen und die Erweiterung des Schengen-Raumes führten zu einem Zuwachs auch an justiziellen Kontakten zwischen Angehörigen verschiedener EU-Staaten, die unterschiedlichen nationalen Rechtsordnungen unterlagen. Das machte die Erweiterung des europäischen Rechtsraumes erforderlich. Der am 1. Dezember 2009 in Kraft getretene Vertrag von Lissabon sieht vor, dass justizielle und polizeiliche Zusammenarbeit vergemeinschaftet werden, d. h. Entscheidungen werden nicht mehr nur durch Konsultationen der Mitgliedstaaten, sondern im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren der EU getroffen. Das Gerichtsverfassungsrecht ist dabei weiterhin eine Domäne der Einzelstaaten. Aber auch hier gibt es zarte Ansätze für europäische Regelungen. So enthält die Verordnung über geringfügige zivilrechtliche Forderungen (small claims) eine Klausel, dass fakultative Gerichte, die auch oder nur mit ehrenamtlichen Richtern besetzt sein können, für diese beschleunigten Verfahren über grenzüberschreitende Forderungen zulässig sind – eine interessante Variante für die Handelsrichter.

Die Beteiligung ehrenamtlicher Richter ist ein europäisches Prinzip – gefährdet, aber bewährt. Ideen für den Ausbau dieser Beteiligung werden von ENALJ weiterentwickelt. Warum müssen z. B. ehrenamtliche Richter zwingend Staatsangehörige des Staates sein, in dem das Gericht besteht? Ein italienischer EU-Bürger, der seit Jahren in Deutschland arbeitet, könnte ehrenamtlicher Richter an einem Arbeitsgericht sein. Im deutsch-belgisch-niederländischen Grenzgebiet könnten Kammern für Handelssachen grenzübergreifend Streitigkeiten mit Handelsrichtern aus Staaten der beteiligten Parteien entscheiden. Der Grünen-Rechtspolitiker Till Steffen hat während der Schöffenwahl 2023 eine Diskussion über die Öffnung des Amtes für EU-Bürger initiiert. Das hatte 1996 bereits der grüne hessische Justizminister von Plottnitz vorgeschlagen. Vielleicht sollte man nicht unbedingt mit dem Strafverfahren bei der Europäisierung des richterlichen Ehrenamtes beginnen. Dazu herrschen in Europa noch zu unterschiedliche Auffassungen über das, was und wie strafbar sein soll. Europa bietet zahlreiche Möglichkeiten, das richterliche Ehrenamt auf nationaler Ebene zu stärken und gleichzeitig „europäischer“ zu machen. Dazu bietet der kommende „Europäische Tag der Ehrenamtlichen Richter“ vom 10. bis 12. Mai 2024 in Leipzig Gelegenheit zur Diskussion.


Zitiervorschlag: Hasso Lieber, Das richterliche Ehrenamt im Spiegel europäischer Geschichte und Institutionen, in: LAIKOS Journal Online 2 (2024) Ausg. 1, S. 33-37.

  1. Heinrich Mitteis/Heinz Lieberich, Deutsche Rechtsgeschichte, 19. Aufl., 1992, S. 329.[]
  2. Peinlich von lat. poena = Strafe.[]
  3. Benannt nach Erich Emminger, Reichsjustizminister 1923/24.[]
  4. Vgl. dazu die Fälle in der Corona-Rechtsprechung von Amtsrichtern: Hasso Lieber, Weimar, Weilheim, Wuppertal – Ein Lehrstück zur richterlichen Unabhängigkeit und Gesetzesbindung, in: Nora Düwell u. a. (Hrsg.), Auf dem Weg zu einem sozialen und inklusiven Rechtsstaat – Covid-19 als Herausforderung. Liber amicorum Franz Josef Düwell, 1. Aufl., 2021, S. 877-905.[]
  5. Urteil vom 12.6.2008, Az.: 26771/03 [Abruf: 15.1.2024].[]
  6. Urteil vom 29.8.1997, Az.: 22714/93 [Abruf: 15.1.2024].[]
  7. Lieber, Befangenheit von Schöffen durch Vorbefassung?, in: LAIKOS Journal Online 2023, Ausg. 2, S. 67-69[]
  8. Haarde v. Iceland, Urteil vom 23.11.2017, Az.: 66847/12 [Abruf: 15.1.2024].[]
  9. AB Kurt Kellermann v. Sweden, Urteil vom 26.10.2004, Az.: 41579/98 [Abruf: 15.1.2024].[]
  10. Vierte Evaluierungsrunde – Korruptionsprävention in Bezug auf Abgeordnete, Richter und Staatsanwälte. Evaluierungsbericht Deutschland vom 10.10.2014 [Abruf: 15.1.2024].[]

Über die Autoren

  • Hasso Lieber

    Geschäftsführender Gesellschafter PariJus gGmbH, Rechtsanwalt, Staatssekretär a. D., Generalsekretär European Network of Associations of Lay Judges, 1993–2017 Vorsitzender Bundesverband ehrenamtlicher Richterinnen und Richter e. V., 1989–2022, Heft 1 Redaktionsleitung „Richter ohne Robe“

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