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Literaturumschau

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Die Volksjury – Erbe der Französischen Revolution – ist vom Aussterben bedroht. 1789 wurde sie mit ihren zwölf Geschworenen aus dem Volk als Garantie für Demokratie und von der Aufklärung als echte Gegenmacht des Volkes angesehen. Der Autor lässt die wechselvolle Geschichte und Reformen der Jury in Frankreich Revue passieren. Das klassische Schwurgericht entschied mit getrennten Funktionen: die Geschworenen über die Schuld, die Berufsrichter über die Strafe. Seine heutige Struktur mit drei Richtern und sechs Geschworenen, die gemeinsam in einem Spruchkörper über Schuld und Strafe entscheiden, erhielt das Schwurgericht (Cour d’assises) mit Gesetz vom 25.11.1941, in Kraft getreten am 1.1.1942. Für jedes Departement gibt es in erster Instanz ein für Verbrechen zuständiges Schwurgericht, das alle drei Monate zusammentritt, mit sechs jeweils aus den Wahllisten ausgelosten Geschworenen. Mit der aktuell letzten tiefgreifenden Justizreform sollen Verfahrensdauer und Kosten der Schwurgerichte gesenkt werden. Daher haben seit dem 1.1.2023 neue dauerhafte Strafgerichte auf Departement-Ebene – mit jeweils fünf Berufsrichtern besetzt – einen großen Teil des Zuständigkeitsbereichs der Jury übernommen, nämlich schwere Straftaten wie Mord und Vergewaltigung. Paradox sei, so der Autor, dass damit das Vertrauen in die Justiz wiederhergestellt werden soll. Er fragt am Ende des Beitrags: „Quelle place accorder aux citoyens: acteurs ou spectateurs de la justice?” (Welchen Platz sollen die Bürger einnehmen: Akteure oder Zuschauer der Justiz?) (us)


Zur Balance und Verteilung von Macht und Ohnmacht im Rechtsstaat gehört die Prävention gegen Machtmissbrauch. Dies untersucht die Autorin anhand des Strafprozesses und beschränkt sich auf die Verfahrensbeteiligten Staatsanwaltschaft, Gericht, Beschuldigte und ihre Verteidiger. Für das Handeln der Staatsanwaltschaft fehlen Mittel gegen den Missbrauch von Macht; die Strafgerichte bieten aufgrund des Näheverhältnisses („Justizfamilie“) keine ausreichende Kontrolle. Jede Machtposition ist mit einer Präventionsposition zu flankieren. Dazu zählt u. a. die Dokumentation der Hauptverhandlung durch Tonaufnahmen vor Landgerichten und Oberlandesgerichten. Bezüglich der Inhaltsdokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung bildet Deutschland zusammen mit Belgien das Schlusslicht. Der Gesetzentwurf des Hauptverhandlungsdokumentationsgesetzes leistet einen Beitrag zur Rechtsstaatlichkeit. Richter fürchten aber einen Machtverlust. Bislang werden die Urteilsgründe aufgrund ihrer Mitschriften, die den Verfahrensbeteiligten nicht zur Verfügung stehen, abgefasst. Bei der Vorbeugung hinsichtlich Kriterien wie Qualität, Fehlerkultur, Transparenz und Unabhängigkeit schneidet Deutschland im EU-Justizbarometer nur bei der Unabhängigkeit gut ab. Beschuldigte und ihre Verteidiger haben Rechte, aber keine Macht. Hierbei bemängelt die Autorin, dass Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern keine Prozesskostenhilfe in Strafsachen vorsehe, sodass sich die Ärmsten der Armen selbst verteidigen müssten. Ohnmacht zeigt sich auch, wenn Angeklagte die deutsche Sprache nicht beherrschen, da es keine Qualitätskontrolle von Dolmetscherleistungen gibt. Ihr Fazit: Wir haben nicht genug Prävention gegen Machtmissbrauch. (us)


Im Oktober 2023 trat die Neuregelung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) in Kraft. Hintergrund war die steigende Zahl von Verurteilten im Maßregelvollzug; 2021 wurden über 3.500 Angeklagte zur Unterbringung in einer Entziehungsanstalt verurteilt, fast doppelt so viele wie 2007. Da die Länder erhebliche Schwierigkeiten hatten, suchtkranke Täter entsprechend der erforderlichen Behandlung unterzubringen, wurden die Voraussetzungen für die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt verschärft. So muss die Person einen Hang haben, alkoholische Getränke oder andere Rauschmittel im Übermaß zu sich zu nehmen, sodass Lebensgestaltung, Gesundheit, Arbeits- und Leistungsfähigkeit infolge der „Substanzkonsumstörung“ dauernd und schwerwiegend beeinträchtigt sind. Die rechtswidrige Tat muss überwiegend auf den Hang zurückzuführen sein und die Gefahr weiterer erheblicher rechtswidriger Taten bestehen. Weitere Voraussetzung für die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt ist der Behandlungserfolg aufgrund tatsächlicher Anhaltspunkte; dazu werden für und gegen den Behandlungserfolg sprechende Gesichtspunkte angeführt. Zu diesen erhöhten Anforderungen an die Unterbringung nach § 64 StGB gibt der Autor einen Überblick über die Rechtsprechung des BGH nach Inkrafttreten der Reform. Er befürchtet, dass suchtkranke Straftäter statt in der Entziehungs- in einer Justizvollzugsanstalt landen. Die kurzfristige finanzielle Entlastung könne auf Dauer zu erheblichen Folgekosten für die Gesellschaft führen. (us)


Nationale wie europäische Gerichte haben sich bereits mehrfach mit der Zulässigkeit des Tragens religiöser Symbole am (privaten und öffentlichen) Arbeitsplatz befasst. Erstmalig hat der EuGH in einer Rechtssache aus Belgien über Neutralitätserfordernisse in der öffentlichen Verwaltung entschieden. Dabei ging es um das Verbot einer Gemeinde, am Arbeitsplatz sichtbare religiöse oder weltanschauliche Zeichen zu tragen, ohne Rücksicht darauf, ob die jeweilige Mitarbeiterin (in Bezug auf das Kopftuch) Kundenkontakt hat oder im Backoffice arbeitet (sog. exklusive Neutralität). Nach Auffassung des EuGH kann eine solche Regelung sachlich gerechtfertigt und nicht diskriminierend sein, wenn sie allgemein und unterschiedslos auf das gesamte Personal der Verwaltung angewandt wird, um ein vollständig neutrales Verwaltungsumfeld zu schaffen. Bei der Ausgestaltung der Neutralität haben die Mitgliedstaaten einen Wertungsspielraum. Den nationalen Gerichten obliegt die Einzelfallprüfung, ob Neutralitätsgebote mit der Religionsfreiheit vereinbar sind. Die Autorin äußert Zweifel, ob ein pauschales Kopftuchverbot in der öffentlichen Verwaltung nach der Rechtsprechung des BVerfG Bestand hätte, da diese an Eingriffe in das Grundrecht der Religionsfreiheit hohe Anforderungen stelle. Hinsichtlich der ehrenamtlichen Richterinnen können die Zweifel der Autorin keine Geltung beanspruchen, da das Tragen des Kopftuches nach den Neutralitätsgesetzen der Länder nur für die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung gilt. (us)


Der zur Entscheidung berufene Richter muss unabhängig sein und die Gewähr für Neutralität und Distanz gegenüber allen Verfahrensbeteiligten haben. Das hohe Gut der richterlichen Unabhängigkeit garantiert eine unbeeinflusste Entscheidung und fordert einen verantwortungsvollen Umgang mit der gewährten Freiheit ein. Dazu gehört auch ein ethisches, auf Neutralität gerichtetes Selbstverständnis des Strafrichters. Der Autor zeigt anhand von Beispielen die Rechtsprechungslinie des EGMR zur Unparteilichkeit auf durch Fallkonstellationen, die einen Zusammenhang zwischen Vorbefassung, Besorgnis der Befangenheit und Unschuldsvermutung erkennen lassen. Ein Richter, der wegen desselben Sachverhaltes bereits gegen einen anderen Angeklagten geurteilt hat (Vorbefassung), ist in einem weiteren Verfahren gegen einen anderen Angeklagten dieses Geschehens nicht befangen, wenn das Urteil keine Feststellung zur Schuld des aktuellen Angeklagten getroffen hat. Im Unterschied dazu ist der erkennende Richter eines in der Revision aufgehobenen Urteils in einer erneuten Verhandlung nach Auffassung des Autors auszuschließen. Wer sich einmal eine zweifelsfreie Meinung gebildet habe, könne kaum die Wahrung der Unschuldsvermutung vermitteln. Die Meinung zu einer Rechtsfrage wiederum – auch wenn sie häufig geäußert wurde – lässt noch nicht auf eine Befangenheit in einem Verfahren mit ähnlichem Sachverhalt schließen. Fallgruppen sind zwar wichtig für tendenzielle Klarheit und Vorhersehbarkeit; maßgeblich sei aber immer der Einzelfall. Im Rechtsstaat könne eine Entscheidung aufgehoben werden. Empfinde der Richter dies als Tadel, müsse er das aushalten können. (us)


Zu den von der Bevölkerung am wenigsten verstandenen Entscheidungen der Strafgerichte gehören die zum sog. Containern, der Mitnahme weggeworfener Lebensmittel aus Abfallcontainern zum Eigengebrauch. 2009 hatte das AG Fürstenfeldbruck zwei Studentinnen unter Strafvorbehalt verwarnt und ihnen eine Geldbuße auferlegt, weil sie von einem Supermarkt entsorgte Lebensmittel zur weiteren Verwendung „retten“ wollten. Das Bayerische Oberste Landesgericht und das BVerfG bestätigten diese Auffassung. Das Wegwerfen berechtigt nicht zur Wegnahme. Je nach Fallgestaltung kommen bei der strafrechtlichen Bewertung die Tatbestände des Diebstahls, Hausfriedensbruchs, der Sachbeschädigung sowie der bandenmäßigen Begehung bei Zusammenarbeit mehrerer Aktivisten in Betracht. Das Unbehagen an der juristischen wie politischen Situation bleibt. Die Autoren analysieren deshalb die rechtspolitischen Vorschläge zur Reaktion auf Containern, die sie jedoch nicht überzeugten. Gesetzliche Definitionen von Lebensmittelabfällen als „herrenlos“, das Absehen von Strafverfolgung bei Geringfügigkeit der Tat sowie ein Hamburger Vorschlag, das Containern auf der Ebene der Verwaltungsvorschriften zu regeln, stoßen auf systematische und praktische Schwierigkeiten, die das Problem nicht beseitigen. Deshalb ist nach ihrer Auffassung bei der Ursache des Problems anzusetzen, nämlich effektive Strategien zur Bekämpfung von Lebensmittelverschwendung zu entwickeln. (us)

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