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BGH: Beginn der Hauptverhandlung; Verständigung

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Sachverhalt: Der Angeklagte P. – zu Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren und neun Monaten verurteilt – beanstandet, dem gesetzlichen Richter entzogen worden zu sein. Die Strafkammer sei mit den Schöffen nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen. Der Beginn der Hauptverhandlung war in Absprache mit den Beteiligten auf den 8.4. mit Fortsetzung am 11., 12. und 26.4., 3., 5. und 8.5.2022 festgesetzt worden. Da der 8.4. kein regulärer Sitzungstag war, wurden die Ersatzschöffen D. und B. herangezogen und den Beteiligten mitgeteilt. Der Verteidiger des Mitangeklagten H. teilte am 7.4. mit, H. sei positiv auf Corona getestet worden. Der Vorsitzende entschied, die Sache solle dennoch aufgerufen werden, ggf. könne ein Rechtsgespräch geführt werden.
Am 8.4. wurde die Sache um 12:49 Uhr aufgerufen, die Anwesenheit der Beteiligten und die Mitteilung der geänderten Gerichtsbesetzung festgestellt sowie der Verteidiger des P. als Pflichtverteidiger, für H. der Terminvertreter „für den heutigen Tag“ beigeordnet. Bezüglich H. solle abgewartet werden, wie die Erkrankung verlaufe. Die Sitzungstage 11./12.4. wurden aufgehoben; das Verfahren sollte am 26.4. „fortgesetzt“ werden. Um 12:55 Uhr wurde die Verhandlung bis zum 26.4. unterbrochen. Danach führte die Kammer – incl. der Schöffen – außerhalb der Hauptverhandlung mit den Beteiligten ein nichtöffentliches Rechtsgespräch. Am 26.4. wurde die Sache mit der Vernehmung zur Person und Verlesung des Anklagesatzes fortgesetzt. Einwände gegen die Gerichtsbesetzung oder das Vorgehen des Vorsitzenden wurden nicht erhoben.
Die Revision beanstandet, der 8.4. sei ein „Scheintermin“ gewesen, weil nicht zur Sache verhandelt und – außer Aufruf und Präsenzfeststellung – keine Prozesshandlungen (§ 243 StPO) vorgenommen worden seien. Tatsächlich habe die Hauptverhandlung am außerordentlichen Sitzungstag des 26.4. begonnen; es hätten die für den 25.4.2022 (ordentlicher Sitzungstag) bestimmten Schöffen mitwirken müssen.

Gründe: Die Verfahrensrüge hat keinen Erfolg. Die Hauptverhandlung hat am 8.4.2022 mit dem Aufruf der Sache begonnen; damit waren die für diesen Sitzungstag bestimmten Schöffen zur Verhandlung und Entscheidung berufen. Den Beginn einer Hauptverhandlung knüpft § 243 Abs. 1 Satz 1 StPO ausschließlich an den Aufruf der Sache. Weitere Erfordernisse für den Beginn nennt das Gesetz nicht. Anders ist es nur, wenn sich die Entscheidung des Vorsitzenden als unvertretbar, d. h. objektiv willkürlich erweist. Über die Zulässigkeit des Aufrufs entscheiden nur die allgemeinen Verfahrensgrundsätze, hier der Beschleunigungsgrundsatz, die Konzentrationsmaxime und § 230 Abs. 1 StPO, wonach gegen den ausgebliebenen Angeklagten eine Hauptverhandlung nicht stattfindet. Hiernach hat der Vorsitzende das Recht auf den gesetzlichen Richter nicht verkannt. Vielmehr war es seine Absicht, die Strafsache über den rein formalen Beginn der Hauptverhandlung hinaus zu fördern:
Der Eintritt in die Hauptverhandlung ermöglichte die Erörterung von Verfahrensfragen unter Beteiligung der Verteidiger und Angeklagten. Zur Abtrennung gegen H. wurde rechtliches Gehör gewährt. Diese Fragen nicht außerhalb der Hauptverhandlung, sondern in Präsenz aller Beteiligten zu erörtern, kann bei einer Mehrzahl von Angeklagten und Verteidigern sinnvoll sein.
Daneben wurde ermöglicht, das Erörterungsgespräch zu einer Verständigung unter Beteiligung der Schöffen durchzuführen. Dass diesen der Tatvorwurf bis dahin noch nicht durch Verlesung der Anklage (§ 243 Abs. 3 Satz 1 StPO) zur Kenntnis gebracht worden war, steht dem nicht entgegen. Besonders bei frühen Beratungen über eine Verständigung (§ 257c StPO) ist nicht zu beanstanden, dass die Berufsrichter die Schöffen in den Verfahrensstoff einführen. Die Hauptverhandlung hat demnach am 8.4. mit der zuständigen Besetzung begonnen. Schöffen und Berufsrichter waren die gesetzlichen Richter.

Anmerkung: 1. Hauptschöffen werden auf die ordentlichen, d. h. nach der Geschäftsverteilung des Gerichts für ein Jahr bestimmten Sitzungstage ausgelost. Bei mehrtägigen Verhandlungen kommen die Schöffen des ersten Tages für das gesamte Verfahren zum Einsatz. Beginnt ein zusätzliches Verfahren an einem für den Spruchkörper nicht im Voraus bestimmten (außerordentlichen) Sitzungstag, nehmen Ersatzschöffen nach der Liste teil. Findet die Hauptverhandlung nicht an einem ordentlichen, sondern an einem nicht im Voraus bestimmten Sitzungstag statt, handelt es sich um eine bloß verlegte Hauptverhandlung und es bleibt beim Einsatz der Hauptschöffen des ordentlichen Sitzungstages.
Vorliegend ist die Verteidigung der Auffassung, der 8.4. sei kein Beginn der Verhandlung, sondern eine Besprechung gewesen. Der erste Verhandlungstag, der den Einsatz der Schöffen bestimme, sei der 26.4. gewesen. Da dieser ebenfalls kein ordentlicher Sitzungstag gewesen sei, habe es sich um eine Verlegung des ordentlichen Sitzungstages vom 25. auf den 26.4. gehandelt, sodass die für den 25.4. ausgelosten Hauptschöffen hätten zum Einsatz kommen müssen. Der BGH hält dem entgegen, dass es für den „Beginn der Hauptverhandlung“ nur auf den Aufruf der Sache ankomme, unabhängig von der weiteren Dauer dieses Sitzungstages. Zudem habe die kurze Verhandlung der Beschleunigung der Sache gedient. Die Hauptverhandlung habe am 8.4. begonnen mit den dafür bereitstehenden richtigen Ersatzschöffen.
2. Der Senat macht zudem deutlich, dass die Information der Schöffen in Vorbereitung einer Verständigung nicht von der Verlesung des Anklagesatzes abhängt. Sie können vorab von den Berufsrichtern informiert werden. Dahinter steht das Vertrauen, dass die Schöffen sich im Laufe einer Verhandlung auch von diesen Informationen lösen können, wenn die Beweisaufnahme ein von der Anklage abweichendes Ergebnis bringt. Die Justizverwaltungen des Bundes und der Länder sollten die Entscheidung zum Anlass nehmen, den dieser Rechtsprechung entgegenstehenden Wortlaut der Nr. 126 der Richtlinien für das Strafverfahren und Bußgeldverfahren anzupassen. (hl)

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Zitiervorschlag: BGH: Beginn der Hauptverhandlung; Verständigung, in: LAIKOS Journal Online 2 (2024) Ausg. 4, S. 161-162.

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