T. Müller: Die Täuschung des Beschuldigten
Tobias Müller: Die Täuschung des Beschuldigten. Berlin: Duncker & Humblot 2022. 276 S. (Strafrechtliche Abhandlungen; N. F., Bd. 304) Print-Ausg.: ISBN 978-3-428-18519-1, € 79,90; E-Book: € 79,90
§ 136a Abs. 1 Satz 1 StPO verbietet die Täuschung des Beschuldigten bei einer Vernehmung. Die Möglichkeiten solcher Täuschungen bezeichnet der Autor als nahezu grenzenlos. Sie können im Verheimlichen bzw. Weglassen wahrer Informationen, der Behauptung falscher Tatsachen als wahr oder auch über Rechtsfragen (Vortäuschen der Vernehmung als Zeuge statt als Beschuldigter) bestehen. Eine Abgrenzung – wie nach der ständigen Rechtsprechung des BGH – zwischen (verbotener) Täuschung und (erlaubter) kriminalistischer List lehnt der Verfasser ab. Unter einer solchen List versteht der BGH z. B. das Stellen von Fangfragen oder doppeldeutige Erklärungen. Die in jedem zweiten Fernseh-Krimi zu hörende „Belehrung“ bei unsicherer Beweislage, der Beschuldigte könne seine Lage nur durch ein Geständnis verbessern, überschreitet eine solche Grenze zur Täuschung. Seine Ablehnung dieser Unterscheidung begründet der Verfasser mit § 136 Abs. 2 StPO, wonach mit der Vernehmung dem Beschuldigten Gelegenheit gegeben wird, die gegen ihn vorliegenden Verdachtsgründe zu beseitigen und zu seinen Gunsten sprechende Tatsachen vorzutragen. Aus der Funktion dieser Norm zur Gewährung rechtlichen Gehörs als Gelegenheit zur Selbstentlastung leitet er die Unzulässigkeit jedweder Irreführung ab, auch der durch bloße List.
Bei der Betonung dieser Funktion von § 136 Abs. 2 StPO geht der Autor noch einen Schritt weiter und erklärt eine verdeckte Ermittlung durch under cover arbeitende Polizeibeamte oder aus dem Milieu stammende Vertrauenspersonen für unzulässig, wenn diese in persönliche Kommunikation mit dem Beschuldigten treten, weil es sich dabei im funktionalen Sinn um eine Beschuldigtenvernehmung handele, für die u. a. der Geltungsbereich des § 136 Abs. 2 StPO eröffnet sei. Diese weit reichende Beschränkung polizeilicher Aufklärungsarbeit leitet er aus dem verfassungsrechtlich garantierten Prinzip des „Nemo tenetur se ipsum accusare“ (Niemand ist verpflichtet, sich selbst zu belasten) ab. Ein Verstoß dagegen führe automatisch zu dem aus § 136a StPO folgenden Beweisverwertungsverbot; das Gericht hat alle Erkenntnisse, die aus diesem Verstoß gewonnen werden, unberücksichtigt zu lassen. Über die Frage, wie weit der Schutz eines Beschuldigten gegenüber der Staatsgewalt reicht, müssen sich auch ehrenamtliche Richter Gedanken machen, da sie über die Verwertung oder Nichtverwertung von Beweismitteln in der Hauptverhandlung mitentscheiden. Entscheidend ist, welche Funktion dem Beweisverbot nach § 136a StPO zugemessen wird: Schützt es (nur) die Ermittlung der Wahrheit, die durch täuschende Methoden nicht verfälscht werden darf (z. B. durch ein falsches Geständnis), dann ist sein Anwendungsbereich sehr viel geringer, weil die Anwendung einer kriminalistischen List nicht den Wahrheitsgehalt tangiert. (hl)
Zitiervorschlag: Hasso Lieber, T. Müller: Die Täuschung des Beschuldigten [Rezension], in: LAIKOS Journal Online 2 (2024) Ausg. 1, S. 51-52.