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H. A. Wiechmann: Nonverbale Verhaltensweisen im Strafprozess

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Die Situation ist bekannt: Jemand stellt eine Behauptung auf oder schildert einen Vorgang; aber das nonverbale Verhalten (die Körpersprache) vermittelt dem Gegenüber einen Widerspruch zum Gesagten. Normalerweise unterstützt die nonverbale Kommunikation die verbale. In der Hauptverhandlung spielt Kommunikation eine zentrale Rolle. Was bedeuten (un)bewusste in Mimik, Gestik, Blickkontakt, Körperhaltung oder Tonlage enthaltene Signale bei der Beurteilung eines Sachverhalts? Wie analysiert und deutet man Bestandteile der Kommunikation, die über das gesprochene Wort hinausgehen und Gefühle, Emotionen und Gedanken ausdrücken? Erlauben uns die Prinzipien des Strafverfahrens (z. B. die Mündlichkeit und Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme), nicht-mündliche „Bekundungen“ zur Grundlage des Urteils zu machen? Und wenn ja, wie stellt man diese Umstände in einem Urteil dar, um sie für ein Rechtsmittelgericht überprüfbar zu machen?

Der Verfasser stellt an den Beginn, wie der Erkenntnisprozess zwangsläufig von nonverbalen Eindrücken in mannigfacher Form beeinflusst wird – ein kurzes Zucken, ein Erröten, zunehmendes Stottern, die leiser werdende Stimme usw. Unbestritten dürfen diese Merkmale im Rahmen der freien Beweiswürdigung Verwendung finden. Die Aussagepsychologie untersucht, inwieweit nonverbale Verhaltensweisen eine fehlende Glaubhaftigkeit der Einlassung eines Angeklagten oder der Aussage eines Zeugen signalisieren können. Die Bedeutung etwa des Gesichtsausdrucks machte der Gesetzgeber deutlich, als er in § 176 Abs. 2 GVG den an der Verhandlung beteiligten Personen verbot, während der Sitzung das Gesicht zu verhüllen, es sei denn, dass dessen Kenntlichmachung zur Beweiswürdigung nicht notwendig ist.

Wissenschaftliche Untersuchungen mahnen zur Vorsicht, da bei der Deutung des Nonverbalen größere Unsicherheiten bestehen als bei der Bewertung von Wahrheit, Irrtum oder Lüge der verbalen Aussage im Wege der sog. Inhaltsanalyse. Den Tatrichtern wird eine oft laienhafte Verwendung von „Lügenstereotypen“ vorgeworfen, wonach man Lügner an „rechtfertigenden Gesten, Vermeidung von Augenkontakt oder gesteigerter Aktivität der Bein- und Fußbewegungen oder anderer Körperbewegungen“ erkennen könne. So hat eine Strafkammer einmal die „vorwurfsvollen Blicke“ der im Zuschauerbereich befindlichen Ehefrau des Angeklagten als Merkmal für die Glaubhaftigkeit einer Zeugenaussage gewertet. Die Kritik, dass Juristen durch eine einseitige rechtsauslegende Ausbildung unter Vernachlässigung der Fähigkeit zur Tatsachenfeststellung in den Beruf entlassen werden, nimmt hier Gestalt an. Nonverbale Merkmale haben in einer seriösen Wertung eher einen Stellenwert bei der Beurteilung des Gesamteindrucks einer Person. Insgesamt erweist sich der Wert dieser Arbeit in der unaufgeregten Warnung, Alltagserscheinungen unter dem Vorwand von Wissenschaftlichkeit distanzlos in die Beweiswürdigung einzuführen. (hl)


Zitiervorschlag: Hasso Lieber, H. A. Wiechmann: Nonverbale Verhaltensweisen im Strafprozess [Rezension], in: LAIKOS Journal Online 2 (2024) Ausg. 1, S. 50.

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