Streitpunkt Dokumentation der Hauptverhandlung
Von Ursula Sens und Hasso Lieber, PariJus gGmbH
Abstract
Das Bundesministerium der Justiz hat am 22. November 2022 einen Referentenentwurf zur digitalen Aufzeichnung der erstinstanzlichen Hauptverhandlung bei Land- und Oberlandesgerichten vorgelegt. Nach heftiger Kritik sieht der am 17. November 2023 verabschiedete Gesetzentwurf nur noch eine verpflichtende Tonaufzeichnung und automatische Transkription vor. Der Beitrag stellt die Kritikpunkte und den aktuellen Stand der Gesetzgebung dar.
On 22 November 2022, the Federal Ministry of Justice presented a draft bill on the digital recording of first-instance main trials at regional and higher regional courts. Following harsh criticism, the draft bill adopted on 17 November 2023 only provides for mandatory audio recording and automatic transcription. This article outlines the points of criticism and the current status of the legislation.
I. Vom Koalitionsvertrag zum Gesetzentwurf
Im Koalitionsvertrag 2021–2025 „Mehr Fortschritt wagen“ wurde eine gesetzliche Regelung zur audiovisuellen Dokumentation der Hauptverhandlung vereinbart (S. 85): „Wir machen Strafprozesse noch effektiver, schneller, moderner und praxistauglicher, ohne die Rechte der Beschuldigten und deren Verteidigung zu beschneiden. Vernehmungen und Hauptverhandlung müssen in Bild und Ton aufgezeichnet werden.“ Hintergrund für ein solches Reformprojekt ist, dass derzeit keine objektive, zuverlässige Dokumentation des Inhalts der erstinstanzlichen Hauptverhandlungen vor dem Landgericht und Oberlandesgericht zur Verfügung steht. Protokolliert werden nur die wesentlichen Förmlichkeiten zur Überprüfung eines ordnungsgemäßen Verfahrensablaufes durch die Revisionsinstanz. Als Gedächtnisstütze – z. B. für Vorhalte an einen Zeugen mit Aussagen eines früher vernommenen Zeugen in der Beratung oder bei der Abfassung der Urteilsgründe – dienen dem Gericht derzeit nur die eigenen, subjektiv wahrgenommenen Mitschriften. Insbesondere in Verfahren von längerer Dauer mit zahlreichen Zeugen und Sachverständigen ist die technische Aufzeichnung als Arbeitsmittel sinnvoll, wenn das Gericht – einschließlich der Schöffen – die umfangreiche Beweisaufnahme nachvollziehen muss. Die Verfahrensbeteiligten sollen schon während der Hauptverhandlung auf die Aufzeichnung bzw. deren Transkript zugreifen können, um eine zuverlässige Grundlage für Anträge und deren Bescheidung, Urteilsberatung usw. zu haben.
In der Diskussion befindet sich die technische Unterstützung einer Protokollierung der Hauptverhandlung schon seit rund 60 Jahren; die Digitalisierung hat eine neue Runde in Gang gesetzt. Nach dem Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz vom 22. November 2022 zum Hauptverhandlungsdokumentationsgesetz (DokHVG) sollte die Verhandlung in Bild und Ton aufgezeichnet und die Tonaufzeichnung mittels Transkriptionssoftware automatisiert in ein Textdokument übertragen werden.1 Aufgrund kritischer Stellungnahmen der Verbände sah der überarbeitete Regierungsentwurf vom 10. Mai 2023 nur noch eine verpflichtende Tonaufzeichnung und deren automatisiertes Transkript vor. Eine zusätzliche Bildaufzeichnung kann von den Ländern optional durch Rechtsverordnung eingeführt werden. Der federführende Rechtsausschuss hat dem Bundesrat am 26. Juni 2023 eine ablehnende Stellungnahme empfohlen (BR-Drs. 227/1/23). Der Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 23. August 2023 hält an der Tonaufzeichnung und deren Transkription fest (BT-Drs. 20/8096).2 Damit bleibt der Gesetzentwurf deutlich hinter dem Koalitionsvertrag und Referentenentwurf zurück.
II. Die öffentliche Diskussion
Während in einigen europäischen Staaten die Aufzeichnung in Bild und/oder Ton schon gängige Praxis ist – in Spanien bereits seit dem Jahr 2000 – befindet sich Deutschland noch im Stadium der Diskussion. Der Deutsche Richterbund bestreitet den Vorbildcharakter bestehender ausländischer Regelungen, weil „dort andere Justizsysteme installiert sind, die der klaren Trennung zwischen Tatsacheninstanz und Rechtsüberprüfung durch das Revisionsgericht im deutschen Strafprozessrecht nicht entsprechen“. Eben! Da in Deutschland die in erster Instanz beim Landgericht und Oberlandesgericht festgestellten Tatsachen in der Revisionsinstanz nur im Hinblick auf ihre rechtmäßige Feststellung, nicht auf ihre Richtigkeit geprüft werden, ist gerade in der ersten und einzigen Tatsacheninstanz jedes Mittel für eine sorgfältige Tatsachenfeststellung auszuschöpfen.
In der Fachliteratur wird heftig über das Für und Wider einer technischen Aufzeichnung gestritten, insbesondere ob sie die richterliche Überzeugungsbildung verbessert, überhaupt der Wahrheitserforschung dient oder Persönlichkeitsrechte der involvierten Personen gefährdet sind. Kulhanek (Richter am LG Nürnberg-Fürth) sieht keinen Nutzen, weil primär auf die eigene Erinnerung zurückgegriffen werden müsse: „Die Vorstellung, in der Beratung – namentlich eines mehrere Verhandlungstage umfassenden Verfahrens – mitunter große Teile der Beweisaufnahme noch einmal in der gesamten Kammerbesetzung, Berufsrichter wie Schöffen, gemeinsam im Videostudium Revue passieren zu lassen, sprengt den Rahmen jedweder Beratung.“3 Dem hält von Verteidigerseite Beukelmann entgegen, dass genau dies erforderlich sei und von einem Richter erwartet werden darf, wenn es für die Urteilsfindung darauf ankommt.4 Auch die Berufsverbände sind in ihrer Auffassung kontrovers. Der Deutsche Richterbund bestreitet in seiner Stellungnahme zum Referentenentwurf grundsätzlich das Erfordernis einer digitalen Protokollierung, während die Neue Richtervereinigung diese im Grundsatz bejaht. Die Anwaltsverbände halten die audiovisuelle Aufzeichnung für die Wahrheitsfindung besser geeignet als die Notizen der Beteiligten. Berufsrichter in Deutschland sind selbst in lang andauernden Prozessen noch auf das Mitschreiben angewiesen, was ideologiefreie Praktiker als Risiko ansehen, „weil man möglicherweise am zweiten Tag, wenn ein Zeuge etwas aussagt, noch nicht weiß, was nach den Erkenntnissen des 20. Hauptverhandlungstages von Bedeutung gewesen ist“.5
III. Aktueller Stand der Gesetzgebung
Am 17. November 2023 hat der Bundestag den Gesetzentwurf in der Fassung des Rechtsausschusses (BT Drs. 20/9359) mit den Stimmen der Regierungskoalition und DIE LINKE angenommen. Dieser schafft eine gesetzliche Grundlage für eine Tonaufzeichnung der Hauptverhandlung und die Verschriftlichung in einem Transkript. Die Bildaufzeichnung könne von den Ländern durch Rechtsverordnung jederzeit teilweise oder flächendeckend eingeführt werden. Der Bundesrat befasste sich am 15. Dezember 2023 erneut mit dem Gesetzentwurf und überwies ihn zur grundlegenden Überarbeitung an den Vermittlungsausschuss. Das Gesetz begegne „erheblichen, grundlegenden und tiefgreifenden fachlichen Bedenken“ (BR Drs. 603/23 B).
Der (noch) Gesetzentwurf überlässt die technischen Fragen den Ländern. In einem Beitrag für LTO wirft Ruben Franzen die interessante Frage auf, was eine Software leisten muss, sodass kein Korrekturbedarf der Transkription erforderlich ist.6 Er weist auf die Fehler bei der Verschriftlichung hin und gibt zu bedenken, dass Einlassungen von Angeklagten und Aussagen von Zeugen auch unvollständig, stockend, stotternd, unverständlich und ohne Punkt und Komma sein können; Äußerungen könnten sich überlagern. Sein Ergebnis: Kein fehlerfreies Protokoll anzustreben, aber eine brauchbare Arbeitsgrundlage.
IV. Die Bedeutung für Schöffen
Auch für Schöffen kann das Gesetz von erheblicher Bedeutung sein. Grundsätzlich könnte ihre Stellung gestärkt werden. Ein Schöffe wird bei divergierender Wahrnehmung oft vertröstet, dass „er da wohl etwas falsch verstanden habe“. Eine – auch nur akustische – Protokollierung trägt zur objektiven Klärung unterschiedlicher Wahrnehmungen bei. In der juristischen Diskussion hat sich – soweit ersichtlich – nur eine Stimme in diesem Zusammenhang mit den Schöffen befasst. Die Mannheimer Richterin am LG Dr. Mirja Feldmann schaut über den Tellerrand des Gesetzentwurfs hinaus und sieht Chancen für einen effizienteren Strafprozess, vor allem in Umfangsverfahren.7 Durch die wörtliche und bildhafte Protokollierung könnte – unter Wahrung des Grundsatzes der Unmittelbarkeit in seinem Kern – auf die Dauer der frustrierende Einsatz als Ergänzungsrichter bzw. -schöffe vermieden werden, weil die Beweisaufnahme beim Ausfall eines Mitglieds des Spruchkörpers in der audiovisuellen Protokollierung als „funktionelles Äquivalent“ nachvollzogen werden könnte, wochen- und monatelanger Einsatz in der zweiten Reihe damit überflüssig würde. In Japan ist man in dieser Hinsicht weiter. Dort werden in Strafverfahren mit Laienrichtern (Saiban-in) von den Vernehmungen in der Hauptverhandlung Video- und Tonaufnahmen angefertigt – zur Überprüfung der Aussagen und für die spätere Beratung.
Inzwischen ist absehbar, dass der große Wurf der Ampelkoalition nicht gelingen wird und Deutschland mal wieder in puncto technischem Fortschritt in der Justiz hinterherhinkt. Wir können auf den Fortgang in der Länderkammer gespannt sein.
Zitiervorschlag: Ursula Sens/Hasso Lieber, Streitpunkt Dokumentation der Hauptverhandlung, in: LAIKOS Journal Online 2 (2024) Ausg. 1, S. 42-43.
- Entwurf eines Gesetzes zur digitalen Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung [Abruf: 1.2.2024].[↩]
- Permalink zum Gesetzgebungsvorgang.[↩]
- Tobias Kulhanek, Die (fehlende) Inhaltsdokumentation des Strafprozesses, Goltdammer’s Archiv für Strafrecht 2023, S. 301, 303 f.[↩]
- Stephan Beukelmann, Das Hauptverhandlungsdokumentationsgesetz – what else?, Strafverteidiger 2023, S. 719, 722.[↩]
- So der Vorsitzende Richter am LG Magdeburg Stefan Caspari im Gespräch mit Peggy Fiebig, Keine Aufzeichnung von Strafprozessen – Der steinige Weg zu mehr Objektivität im Gerichtssaal, Deutschlandfunk vom 6.2.2022 [1.2.2024].[↩]
- Die Hauptverhandlung ist kein Diktat, LTO vom 18.1.2024 [Abruf: 1.2.2024].[↩]
- Bloße Audio-Dokumentation der Hauptverhandlung – Vertane Chance für die Justiz, Zeitschrift für Rechtspolitik 2023, S. 165 ff.[↩]