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Filmregisseur Andreas Dresen über seine Erfahrungen als ehrenamtlicher Verfassungsrichter

Im Gespräch mit Bettina Cain und Hasso Lieber

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Abstract
Nach der Brandenburger Landesverfassung können auch Personen ohne die Befähigung zum Richteramt das Ehrenamt als Verfassungsrichter ausüben. Der Brandenburger Landtag hat von der Möglichkeit, erfahrene Personen ohne juristische Ausbildung an der Anwendung und Auslegung der Landesverfassung zu beteiligen, aber nur zögerlich Gebrauch gemacht. Der Filmregisseur Andreas Dresen berichtet über seine Erfahrungen nach zehn Jahren als Verfassungsrichter: über den Umgang mit juristischen Fragen und der Gerichtssprache, der Bearbeitung von Fällen sowie über seine Verantwortung und Rolle als Richter – auch als Berichterstatter bei Verfassungsbeschwerden. Besonders positiv hat er die Zusammenarbeit mit den juristischen Mitgliedern des Gerichts und deren Wertschätzung erlebt sowie die demokratische Streitkultur.

According to the Brandenburg state constitution, persons without the formal qualification for judgeship may be honorary constitutional judges. However, the Brandenburg state parliament has been reluctant to make use of the possibility to involve experienced persons without legal education in the application and interpretation of the state constitution. Film director Andreas Dresen reports on his experiences after ten years as a constitutional judge: on dealing with legal issues and the language of the court, on handling cases, and on his responsibility and role as a judge – including his responsibility as a rapporteur for constitutional complaints. He has had a particularly positive experience of working with the legally trained members of the court and their appreciation of his work, as well as the democratic discussion culture.

Vorbemerkung

Vor einem Jahr haben wir dieses Interview mit Andreas Dresen geführt. Es sollte so etwas wie eine Hommage auf einen Richter und sein Amt sein, das im November 2022 enden sollte. Eine Klausel im Verfassungsgerichtsgesetz schob das Ende des Amtes und die Würdigung hinaus. Die Amtszeit als Richter des Verfassungsgerichts endet nach § 6 Abs. 2 Satz 1 des Brandenburger Verfassungsgerichtsgesetzes zehn Jahre nach dem Tag der Ernennung zum Verfassungsrichter. Eine Wiederwahl lässt die Landesverfassung nicht zu. Aber es gibt noch Satz 2: „Sie führen ihre Amtsgeschäfte bis zur Ernennung des Nachfolgers fort.“ Hier gab es unvorhergesehene Schwierigkeiten. Am 13. November 2022 sollte die zehnjährige Amtszeit von Andreas Dresen enden. Von Mal zu Mal wurde eine Neuwahl verschoben – und damit auch dieser Artikel.1 Der Landtag konnte sich auf einen Nachfolger nicht einigen. Und so fallen das kommende Ende der Amtszeit mit der Geburt der Zeitschrift „LAIKOS Journal Online“ zusammen.

Zur Person

Andreas Dresen ist einer von neun Verfassungsrichtern am Verfassungsgericht des Landes Brandenburg. Alle sind – vom Landtag gewählt – ehrenamtlich tätig. Ein Drittel der Mitglieder kommt aus der aktiven Richterschaft, ein weiteres Drittel hat die Befähigung zum Richteramt, also das zweite juristische Staatsexamen, z. B. Rechtsanwälte und -professoren. Daneben lässt Artikel 112 der Landesverfassung auch bis zu einem Drittel der Mitglieder ohne juristische Ausbildung zu. Vor Dresen gehörten dieser Gruppe seit Bestehen des Verfassungsgerichts 1993 nur drei Richter ohne juristische Ausbildung an: von 1993 bis 1999 Prof. Dr. Rolf Mitzner, Physiker, Chemiker und Gründungsrektor der Universität Potsdam, von 1993 bis 2009 der Theologe und Philosoph Prof. Dr. Richard Schröder (eine Wiederwahl war als Ausnahme nur bei den ersten Mitgliedern möglich) und von 1999 bis 2009 der Schriftsteller, Maler und Komponist Florian Havemann. Mit der Schriftstellerin Dr. Julia Barbara Finck (alias Juli Zeh) gehört aktuell ein weiteres Mitglied dem Gericht an, das nicht aus der Justiz oder justiznahen Berufen stammt. Allerdings ist sie ihrer Ausbildung nach Volljuristin.

Bei seiner Berufung 2012 war Andreas Dresen bereits ein bekannter Filmregisseur; während seiner Zeit am Verfassungsgericht blieb er weiterhin in seinem Beruf präsent.2 Außerdem ging er mit Alexander Scheer und Band auf Konzert-Tour mit Liedern von Gerhard Gundermann, war mit dem Autor Hans-Dieter Schütt auf Gesprächsreise zu dem Buch „Glücks Spiel. Porträt eines Regisseurs“. In Dresens Amtszeit sind von 2012 bis 2021 insgesamt 1.057 Verfahren beim Verfassungsgericht eingegangen, davon wurden 1.020 erledigt.3

Zum Gericht

Seinen Sitz hat das Verfassungsgericht in einem kleinen Gebäude am Rande des Potsdamer Justizzentrums in der Jägerallee. Wie viele der heutigen Regierungsgebäude in Potsdam wurde es vor fast 200 Jahren für das preußische Militär gebaut. Karl Friedrich Schinkel hat den Bau entworfen. Früher war dort ein Offizierskasino untergebracht; dessen Speisesaal ist nun der Sitzungssaal. Preußischer Militärgeist spukt hier jedenfalls nicht mehr.

Bürger Andreas Dresen: „Was mache ich eigentlich für die Demokratie?“

Zum Interview im Verfassungsgericht kommt Andreas Dresen wie immer mit dem Fahrrad. Dort treffen wir ihn am Tag der öffentlichen Urteilsverkündung über die Verfassungskonformität von § 5 Abs. 1 Satz 1 des Brandenburgischen Verfassungsschutzgesetzes zur sog. Verdachtsberichterstattung.

Herr Dresen, Sie – und vor Ihnen Mitzner und Havemann – wurden auf Vorschlag der PDS (bzw. DIE LINKE) vorgeschlagen. Allerdings gab es keinen nahtlosen Übergang zwischen Ihrem Vorgänger Florian Havemann und Ihnen. Drei Jahre ohne Laienbeteiligung an der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts liegen dazwischen.

Das stimmt. In Brandenburg wird die Laienrichtermöglichkeit am Verfassungsgericht immer noch durch die LINKE hochgehalten. Sie fühlt sich wohl dafür besonders zuständig. Das hat sicher mit der Diktatur- und Wendeerfahrung zu tun. Ich denke, sie möchte damit eine gewisse Sicht von – ich sag mal – Leuten aus dem Volk auf die Verfassungsrechtsprechung haben, deren Perspektive in die Rechtsauslegung einbringen und damit eine andere Sicht auf die Einhaltung der verfassungsrechtlich garantierten Rechte für Bürger, Organisationen und Körperschaften ermöglichen.

Hatten Sie, bevor Sie Ihre Zusage für eine Kandidatur gaben, schon einmal Berührung mit ehrenamtlichen Richtern? In der DDR gab es ja auch Schöffen.

Nein, gar nicht. Ich war von der Anfrage ziemlich überrascht. Allerdings hat sie mich in einem Moment erreicht, als ich offen dafür war. Ich hatte gerade über ein Jahr einen Dokumentarfilm über den CDU-Landtagsabgeordneten Henryk Wichmann gedreht.4 Ich bin im Landtag ein- und ausgegangen, verbrachte viel Zeit in der CDU-Fraktion, habe mich intensiv mit Fragen zu Demokratie und Beteiligung beschäftigt. Aus Beobachter-Distanz konnte ich erleben, wie der Abgeordnete sehr unfein von Bürgern angegangen wurde. In mir regte sich manchmal die Gegenfrage: „Was tut Ihr eigentlich für die Demokratie, außer auf der Meckerbank zu sitzen?“ Wenn man anfängt, so etwas zu denken, hinterfragt man automatisch seine eigene Rolle. Was mache ich eigentlich für die Demokratie, außer dass ich hier meine Arbeit mache? Wo bringe ich mich denn noch ein? Im Ergebnis – wenn man ehrlich ist – noch zu wenig.

Das klingt ein wenig wie die John F. Kennedy zugesprochene Aufforderung „Frage nicht, was dein Land für dich tun kann – frage, was du für dein Land tun kannst“, nur nicht so pathetisch.

In dieser Stimmung kam die Anfrage der LINKEN, die mich erst einmal ziemlich verwunderte. Verfassungsgericht? Kann ich nicht, kommt für mich nicht infrage. Wie soll ich das mit meinem Beruf vereinbaren? Dann habe ich recherchiert, mit Kollegen gesprochen, mich mit dem damaligen Präsidenten des Verfassungsgerichts Jes Möller getroffen. Alle haben mich ermuntert. Bis ich irgendwann dachte, das ist vielleicht genau die Chance, mich einzubringen, auf die ich gewartet habe. Allerdings habe ich nicht geahnt, was ich mir wirklich aufgeladen habe. Aber wahrscheinlich hätte ich es trotzdem gemacht.

Aufgeschlossen sein, sich mit der Aufgabe auseinandersetzen sind sicherlich gute Voraussetzungen für jeden Laienrichter, um das Amt anzunehmen. Reicht das?

Zunächst musste ich durch alle Fraktionen im Landtag und mich vorstellen. Da wurde ich – sicher zurecht – misstrauisch befragt, wie ich mir das so vorstelle mit meiner eigentlichen Arbeit. Dann wurde ich gewählt. Ich hatte keine Ahnung von Verfassungsrecht – logischerweise, auch wenn ich die Landesverfassung irgendwann mal gelesen habe. Tatsächlich ist es so, dass man als Laienrichter am Verfassungsgericht die gleichen Aufgaben erfüllen muss wie alle anderen Richter. Es gibt keine Schonzeit, kein Sonderprogramm. Es kommt gleich mit der ganzen Breitseite. Turnusmäßig bekam ich die eingehenden Verfassungsbeschwerden, Normenkontrollanträge usw. zugewiesen – das waren Aktenstapel. In der nächsten Sitzung musste ich den Kollegen zu den Verfahren vortragen, die ich selbst zu bearbeiten hatte.

Aus Ihrer heutigen Sicht, zehn Jahre später: Ist das für juristische Laien machbar?

Zunächst war es eine Hürde, nicht vom Fach zu sein. Beim Aktenstudium waren mir viele Begrifflichkeiten fremd, ich habe das ja nicht studiert. Zum Beispiel: Was ist Subsidiarität? In den ersten Jahren habe ich sehr viel Zeit in der Bibliothek verbracht, habe mich auf die Sitzungen vorbereitet. Manchmal habe ich dafür einen halben Monat gebraucht. Das war an der absoluten Grenze dessen, was neben meiner eigentlichen Arbeit noch leistbar ist. Ich habe mich schon manchmal gefragt: Kann ich jetzt eigentlich noch Filme machen? Davon abgesehen habe ich meine ersten juristischen Akten wie ein Drehbuch gelesen, von vorne nach hinten, um dann festzustellen, dass man erst einmal hinten reingucken sollte. Da kann man möglicherweise sehen, dass sich der Fall bereits erledigt hat. Es wurde aber besser. Nach ein, zwei Jahren wurde ich sicherer in der Handhabung der Akten und habe auch die Abläufe genauer verstanden. Mit der Zeit bekommt man eine andere Effizienz: Was ist wichtig in dem Verfahren, was kann man eventuell überspringen oder nur querlesen?

Gab es eine spezielle Einführung zu Ihren Rechten und Pflichten?

Das geschah vorher in Gesprächen mit den Kollegen und dem Präsidenten. Das Wesentliche dazu steht im Verfassungsgerichtsgesetz. Was wichtig war: Ich konnte immer die wissenschaftlichen Mitarbeiter fragen, weil ich erst einmal vieles nicht verstanden habe. Das wurde mir komplikationslos erklärt. Alle haben meine Nöte verstanden und mir beim Einarbeiten geholfen. Es war aber nicht ohne, denn ich hatte gleich zu Anfang eine Verfassungsbeschwerde als Berichterstatter, wo ich mich plötzlich in Robe vortragend in dem gefüllten Gerichtssaal sah. Das sind schon Momente, die einen innerlich beben lassen.

Den Laien trifft also auch die Funktion des Berichterstatters?

Ja, man macht als Laienrichter hier exakt das gleiche wie Volljuristen. Ich bin für die gleiche Anzahl von Verfahren Berichterstatter wie der Richter neben mir.

Haben Sie Einfluss auf die Gerichtssprache genommen?

Das versuche ich bis heute. Alle Beschluss- oder Urteilsentwürfe werden im Gremium diskutiert. Es gibt einen redaktionellen Umlauf, wo wir Seite für Seite durchgehen. Dabei versuche ich, auf verständliche Sprache zu achten. Manches geht ohne bestimmte juristische Formeln und Beschreibungen natürlich nicht. Das ist oft ein Spagat, wenn man einen Ausgleich versucht. Aber manchmal entwickeln Juristen auch eine gewisse Freude daran, Sachverhalte so darzulegen, dass man das Gefühl haben kann, es geschehe zum Selbstzweck. Das interessiert denjenigen, der eine Beschwerde eingereicht hat, kein bisschen. Dann schlage ich Streichungen vor. Die Ausführungen mögen für juristische Publikationen interessant sein, aber nicht für den, der die Verfassungsbeschwerde eingereicht hat. Tatsächlich ist das einer der größten Vorteile, als juristischer Laie dabei zu sein. Ich bin immun gegen juristische Stellvertreterkriege – ganz naiv und unbedarft.

Hatten Sie anfangs Hemmungen, Fragen zu stellen, weil Sie befürchteten, Unwissenheit zu zeigen? Oder haben Sie unbefangen gefragt nach dem Motto „Ich habe das Recht, nichts wissen zu müssen“, und davon Gebrauch gemacht?

Mein Status im Gericht ist klar. Die Kollegen wissen, dass ich keine juristische Ausbildung habe; damit muss ich nicht hinterm Berg halten. Ich habe dann gesagt: Vielleicht ist die Frage ein bisschen dämlich, aber ich verstehe das nicht. Die Kollegen waren immer bereit zu erklären, gegebenenfalls auch noch mal darüber nachzudenken. Es ist nicht so, dass meine Bedenken immer gegen die Wand gelaufen sind. Es gab durchaus Situationen, bei denen wir gemeinsam einen anderen Weg fanden. Das ist sehr wertvoll und ich fühlte mich immer wertgeschätzt. Deswegen hatte ich keine Angst, Fragen zu stellen. Das gehört zu einer guten Kommunikation, dass man seine Fragen und auch Zweifel äußert.

Hat sich nach zehn Jahren dabei nichts abgeschliffen?

Ein Jurastudium ersetzen die zehn Jahre nicht. Ich weiß aber jetzt vieles, worum es den Juristen geht. Das bleibt nicht aus. Deswegen ist es gut, dass man nach zehn Jahren geht. Mittlerweile habe ich die Unbefangenheit verloren, die ich zu Anfang hatte, stelle zum Beispiel bestimmte Fragen nicht mehr. Es bleibt nicht aus, dass man bestimmte Mechanismen, bestimmte Abläufe selbst beim Aktenstudium adaptiert.

Was bewegt Sie besonders nach dieser zehnjährigen Erfahrung?

Das sind die sehr hohen Zulassungshürden für eine Verfassungsbeschwerde. Es ist für mich immer wieder schwierig, damit umzugehen. Selbst mit meiner praktischen Erfahrung würde ich mich heute nicht trauen, eine Verfassungsbeschwerde einzureichen. Ich befürchte, schon an der Zulässigkeit zu scheitern. Meine juristischen Kollegen meinen auch, dass das schwierig sei. Wie soll das eigentlich ein einfacher Bürger bewerkstelligen? Es gibt so viele Zulässigkeitsschranken. Das ist kompliziert und manchmal ein bisschen absurd. Allein die Subsidiaritätsregelungen5 oder das rechtliche Gehör6.

In den Verfahren, die ich als Berichterstatter betreue, versuche ich, die Zulässigkeitshürde großzügig zu handhaben. Das geht natürlich nicht immer, die Regeln gelten selbstverständlich für alle. Aber ich versuche, nicht zu eng in meiner Auffassung zu sein, wenn es irgendwie möglich ist. Klar muss man durchs Gremium, denn es hängt nicht vom Berichterstatter ab, ob eine Verfassungsbeschwerde zulässig ist oder nicht. Auch der aufgeregteste Bürger, der sich über irgendetwas aus seinem Alltag beschwert, das – möglicherweise unzulässig – zu uns an das Verfassungsgericht kommt, hat es verdient, dass man sich seinem Anliegen aufmerksam widmet.

Gab es auch unangenehme Momente, in denen Sie sich als Richter nicht ernst genommen fühlten?

Wenn ich von Anwälten in Verhandlungen plötzlich mit Sprüchen abgewatscht wurde wie: „Noch mal für Herrn Dresen …“ Solche Herablassungen habe ich mir nachdrücklich verbeten. Wenn ich mich ins Gericht setze, kann jeder davon ausgehen, dass ich mich in die Materie komplett eingearbeitet habe. Dazu ist die Angelegenheit viel zu ernst. Sicherlich erfordert es manchmal Mut, Fragen in der Verhandlung zu stellen, will man sich doch keine Befangenheit wegen falscher Formulierungen einhandeln. Wir hatten hochpolitische Verfahren mit großer öffentlicher Aufmerksamkeit, zum Beispiel zum Paritätsgesetz7 oder zur Privatschulfinanzierung8. Da ist das Eis manchmal dünn, vor allem wenn die Parteienvertreter auf Fehler lauern. Mittlerweile habe ich aber mehr Erfahrung damit und eine gewisse Sicherheit bekommen, anders als vielleicht noch vor sieben Jahren.

Man merkt mit der Zeit, dass Anwälte auch nur mit Wasser kochen?

Zum Teil, ja. Allerdings muss ich sagen, dass die Mehrzahl der Verhandlungen, die ich erlebte, aus meiner Sicht wirklich gut war. Ich habe im besten Sinne demokratische Streitkultur erlebt. Eine gute Verhandlung ist meist auch gar nicht so lang. In zweieinhalb Stunden lässt sich viel abhandeln. Wenn das mit einem gewissen Respekt voreinander passiert, können auch die Klingen gekreuzt werden. Mit einer guten Streitkultur macht eine Verhandlung wirklich Spaß. Das erlebte ich zum Beispiel im Verfahren über die Finanzierung der Privatschulen. Vor dem Gericht gab es Demonstrationen. Und dann war die Verhandlung hochkonzentriert, überhaupt nicht polemisch, sondern wurde von allen Seiten sachlich geführt. So kann man den Druck aus dem Kessel nehmen. Deshalb wünsche ich mir gerade den Umgang in der Gesellschaft mit polemisierenden Meinungen. Das gehört zu einer demokratischen Kultur dazu. In einer guten Verhandlung muss man die Dinge offen austragen. Natürlich hatten wir auch – allerdings wenige – Verhandlungen, wo sich Vertreter profilieren wollten und das Gericht mit dreistündigem Vortrag lahmgelegt haben.

Hat Ihre Tätigkeit als Verfassungsrichter Auswirkungen auf Ihr Bild von der Justiz? Sehen Sie manches nunmehr anders? Gibt es eine Art Wechselwirkung zu Ihrer beruflichen Tätigkeit?

Wechselwirkungen gibt es immer, man läuft durchs Leben und nimmt die Erfahrungen aus unterschiedlichen Bereichen auf und reflektiert sie. Es ist aber nicht so, dass dies direkten Einfluss auf meine Filmarbeit hat. Was ich hier lese, trage ich dort nicht unbedingt hinein und mache daraus einen Film. Natürlich ist die Erfahrung, die ich im Umgang miteinander sammle, unschätzbar. Obwohl ich das Film-Projekt schon weit vor meiner Zeit als Verfassungsrichter angefangen habe, war es bei dem Film „Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush“ für mich hilfreich, selbst zu erleben, was ein Verfassungsgericht macht, eine Art Supreme Court. Was ist das für eine Form von Rechtsprechung? Womit setzen sie sich auseinander? Das half beim Verständnis für die juristischen Abläufe in dem konkreten Fall. Aber ab einem gewissen Punkt muss man das bei der filmischen Arbeit wieder beiseite tun, weil es den Zuschauer nur begrenzt interessiert.

Wo gab es am Gericht Grenzen für Sie als Laienrichter?

Bis heute bin ich nicht in der Lage, einen Beschlussentwurf zu schreiben. Dazu brauche ich die wissenschaftlichen Mitarbeiter. Ich kann eine Rechtsauffassung zu einem streitigen Sachverhalt entwickeln. Aber ich könnte sie nicht juristisch wasserfest niederschreiben. Mir fehlt dazu das Handwerkszeug. Genauso wäre es, wenn ich jetzt ein Sondervotum schreiben müsste.

Glauben Sie, dass Sie sich den Juristen angenähert haben oder dass vielleicht auch Ihre Sicht, Ihre Ausdrucksweise, Ihre Sprache ein wenig die Sicht, die Verhaltensweise der Juristen beeinflusst haben?

Das ändert sich von Fall zu Fall. Es gibt Verfahren, bei denen alle einer Meinung sind. Interessant wird es, wenn man anfängt zu streiten. Dann sind es ganz praktische Argumente, die wir austauschen. Es gibt sicherlich von Zeit zu Zeit Annäherungen in die eine oder andere Richtung. Ich habe durch die Gewohnheit bestimmte Sachen übernommen, weil man die Distanz zu einigen juristischen Abläufen mit der Zeit verliert. Auf der anderen Seite gibt es bei den Kollegen ein Grundverständnis für meine Positionen. Es kann sein, dass sie das von vornherein in den Diskussionsabläufen berücksichtigen, weil sie bestimmte gedankliche Wege von mir kennen und adaptieren. Das ist eine Frage des Umgangs in normal ablaufenden Streitprozessen, die Positionen der Gegenseite zu adaptieren, zu verstehen und gegebenenfalls zu widerlegen. Das ist einer der Hauptgründe, weshalb ich im Gericht sitze. Ich bin kein Jurist. Ich kann „nur“ meine Lebenserfahrung einbringen und mit diesem Blick auf die Sachverhalte schauen, die wir verhandeln. Wir haben durchaus Verfahren, bei denen ich mit meiner Auffassung alleine stehe. Es gibt aber auch Verfahren, wo ich bei geteilter Meinung im Spruchkörper bei der Mehrheit bin. Das kommt alles vor, tut aber nicht weh. Das ist Demokratie, damit muss man umgehen, wenn man überstimmt wird. Dazu sind wir ja so viele, die Recht sprechen. Natürlich versuche ich, die anderen zu überzeugen.

Aus unserem Gespräch nehmen wir den Eindruck mit, dass hier am Verfassungsgericht der Umgang mit Laienrichtern auf einem sehr hohen Niveau stattfindet. Das ist nicht überall so, wie uns ehrenamtliche Richter aus anderen Gerichtsbarkeiten berichteten. Ist es nach Ihrer Erfahrung wichtig, Laienrichter bei der Rechtsprechung dabei zu haben?

Ich finde es gut. Sicherlich stößt es in der Verfassungsgerichtsbarkeit an Grenzen, weil das eine sehr komplexe Materie ist. Das habe ich, ehrlich gesagt, unterschätzt. Zunächst dachte ich, wir befassen uns mit grundsätzlichen Fragen. Im Detail wird es dann doch sehr konkret. Man muss nachvollziehen, was wirklich verhandelt wird. Das betrifft alle Rechtsbereiche: Verkehrsrecht, Familienrecht, Verwaltungsrecht. Ich hatte alles in den Jahren. Dazu muss man sich erst einmal mit der Rechtsmaterie befassen, um überhaupt zu verstehen, was eigentlich der Ausgangspunkt der „Reise“ des Verfahrens ins Verfassungsgericht gewesen ist. Das ist durchaus anspruchsvoll.

Bis zu zwei Laienrichter am Verfassungsgericht wären optimal. Natürlich ist es personenabhängig, wie kompromissbereit und offen diese Menschen sind. Das trifft auf die Juristen genauso zu. Mit der Zusammensetzung eines Gerichts wechselt auch die Art, Sachverhalte zu beurteilen, und damit auch die Rechtsprechung. Recht wird schließlich von Menschen mit ihren persönlichen Erfahrungen gesprochen, nicht von Maschinen. Das war für mich auch ein Lernprozess. Ich dachte immer, Rechtsprechung funktioniert eben nach bestimmten Regeln. Dann hatten wir aber Diskussionen, zu denen es zwei diametrale Beschlussentwürfe gab. Beide Entscheidungen wären schlüssig gewesen. Stimmenthaltung ist nicht möglich. Darin liegt die Verantwortung. Plötzlich kommt es auf die eigene Stimme an, wenn es 4 zu 4 steht und meine Stimme entscheidet, ob zum Beispiel der Landtag oder die Landesregierung etwas neu regeln muss oder nicht. Bei Eilverfahren entscheiden wir manchmal nur zu dritt, wie bei den Corona-Verordnungen. Da spürte ich die Last, die hohe Verantwortung, den Einfluss, den wir auf die Landespolitik mit unserem Urteil oder Beschluss haben. Diese wirken sich massiv auf das gesellschaftliche Leben aus. Wir sprechen ja hier über die Grundregeln unseres Zusammenlebens.

Sie haben eben ein interessantes Beispiel gebracht, dass es Fälle gab, bei denen es im Gericht pari stand und jeder derjenige sein konnte, der als Fünfter den Ausgang entscheidet. Gab es nach Ihrer Wahrnehmung auch Fälle, bei denen die Grundeinstellung eines Richters ausschlaggebend war – nicht die politische Überzeugung, sondern seine Grundwerte, mehr konservative oder liberale? In der Strafgerichtsbarkeit wurde zum Beispiel eine Ärztin verurteilt, die über Schwangerschaftsabbrüche informiert hatte und nach § 119a StGB verurteilt wurde. Das ist eine klare Wertungsentscheidung, ob man die Frau verurteilt, weil sie unzulässige Werbung macht oder zulässige Aufklärung. Haben Sie solche Erfahrungen machen können?

Ich glaube, die eigenen Grundwerte und Überzeugungen spielen immer eine Rolle. Ich entscheide ja auch als Mensch. Ich hatte nie das Gefühl, jemand mache im Verfassungsgericht Politik im Sinne der Partei, die ihn vorgeschlagen hat. Ich weiß teilweise gar nicht, von welchen Parteien die Richter vorgeschlagen wurden. Wir sind nicht am amerikanischen Supreme Court, wo es zurzeit eine konservative Mehrheit gibt. Natürlich bringt jeder seine persönlichen Auffassungen und Werte ein. Anders geht es nicht. Für mich war das eine der interessantesten Erfahrungen: Urteile zu fällen, ist eben keine Mathematikaufgabe.

Ich komme aus Ostdeutschland, bin mit einer Diktaturerfahrung groß geworden. Deswegen merke ich jetzt, dass ich beispielsweise bei bestimmten staatlichen Interventionen in das Handeln von Parteien hoch allergisch reagiere. Bei mir ist der Punkt, an dem ich Stopp sage, so geht das nicht, definitiv schneller erreicht als bei anderen Kollegen, die diese Erfahrungen nicht haben. Das könnte man auf alle möglichen Verfahren übersetzen. Ich streite mich dann gerne. Wir sind Individuen, jeder bringt seine eigene Geschichte mit. Mit der Besetzung der Gerichte kann sich auch ihre Rechtsprechung ändern. Es ist schlau, die Zeit für Richter beim Verfassungsgericht zu begrenzen und nicht auf Lebenszeit auszudehnen wie am Supreme Court. Meiner Meinung nach sollte für alle Ämter mit einer gewissen Verantwortungstiefe die Amtszeit begrenzt werden, damit es Chancen für Erneuerung und Evolution gibt. Das sollte auch für die Rechtsprechung gelten, damit sich hier nichts manifestieren kann. In 20 Jahren sollten Sachverhalte einer anderen Betrachtung unterzogen, eventuell auch revidiert werden.

Im Laufe unseres Gesprächs haben Sie einen anschaulichen Kriterienkatalog für „Anforderungen an einen ehrenamtlichen Richter“ aufgelistet. Hat eigentlich eine Fraktion oder eine Partei Sie mal eingeladen, über Ihre Erfahrungen zu berichten, um sich sachkundig zu machen, welche Anforderungen derjenige erfüllen muss, den sie demnächst vorschlagen will?

Nur die LINKE. Vor gar nicht langer Zeit war ich in der Fraktion und habe über meine Erfahrungen gesprochen. Wahrscheinlich wollten sie sich selbst überprüfen, ob sie wieder einen Laienrichter vorschlagen, wenn sie an der Reihe sind. Das war ein gutes Gespräch. Ich habe ihnen auch gesagt, an welchen Stellen ich Schwierigkeiten hatte.

Aber diese Schwierigkeiten waren nicht unüberwindbar?

Nein, aber man darf sich nicht der Illusion hingeben, dass wir nur einmal im Monat erscheinen müssen. Jeden dritten Freitag haben wir zwar Sitzung, in denen die Beschlussentwürfe ausgearbeitet werden und die Berichterstatter ihre Verfahren vortragen. Es braucht jedoch viel Zeit, diese sorgfältig vorzubereiten. Das unterschätzt man schnell und denkt, das schon irgendwie hinzubekommen. Diese hohe Lernhürde musste ich erst einmal nehmen. Alle Richter sind ehrenamtlich tätig und hauptberuflich woanders unterwegs. Sie müssen sich ihre Zeit einteilen. Wenn ich mit einem Nachfolger sprechen würde, der wie ich juristischer Laie ist, würde ich ihm dringend den Rat geben, sich im ersten Jahr sehr viel Zeit zu nehmen. Mit den Jahren wird es dafür dann etwas leichter.

Herr Dresen, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.


Nachtrag der Redaktion

Der von Dresen geschilderte Einfluss des Nicht-Juristen auf Sprache und Stil des Verfassungsgerichts kann aus der Sicht des Anwalts bestätigt werden. Ich machte die Erfahrung in einem Organstreitverfahren über Status und Rechte einer Parlamentarischen Gruppe im Brandenburger Landtag, in dem ich die antragstellenden Abgeordneten vertreten habe. Die von Dresen gestellten Fragen waren reine Wissens- und Verständnisfragen, die dem Anwalt die Möglichkeit gaben, den Standpunkt der Antragsteller zu verdeutlichen und zu präzisieren. Etliche Fragen der juristischen Mitglieder des Gerichts signalisierten lediglich die Überzeugung von der eigenen Sachkunde, sodass als Antwort eine einfache Bestätigung oder Verneinung ausreichte. Wenn ich nicht ein entsprechendes Vorverständnis gehabt hätte – ich habe die Besetzung des Verfassungsgerichts mit nicht notwendig juristisch vorgebildeten Vertretern der Zivilgesellschaft seinerzeit in die Beratungen des Verfassungsausschusses eingespielt –, wäre ich spätestens nach dieser Verhandlung davon überzeugt gewesen. (hl)


Zitiervorschlag: Andreas Dresen/Bettina Cain/Hasso Lieber, Filmregisseur Andreas Dresen über seine Erfahrungen als ehrenamtlicher Verfassungsrichter. Im Gespräch mit Bettina Cain und Hasso Lieber, in: LAIKOS Journal Online 1 (2023) Ausg. 1, S. 15-20.

  1. Neubesetzung am Verfassungsgericht zäh: Neuer Anlauf 2023, Süddeutsche Zeitung vom 9.12.2022; Volkmar Schöneburg, Verlierer ist die Verfassung, ND vom 27.4.2023 [Abruf: 7.5.2023][]
  2. Filmografie / Deutsches Filminstitut & Filmmuseum e. V. [Abruf: 7.5.2023].[]
  3. Statistik / Verfassungsgericht des Landes Brandenburg [Abruf: 7.5.2023].[]
  4. „Herr Wichmann aus der dritten Reihe“ (2012) über Henryk Wichmann, von 2009 bis 2019 CDU-Abgeordneter des Landtags Brandenburg; 2003 veröffentlichte Dresen bereits einen ersten Dokumentarfilm über ihn: „Herr Wichmann von der CDU“.[]
  5. Eine Verfassungsbeschwerde kann erst nach Erschöpfung des fachgerichtlichen (d. h. zivil-, straf- verwaltungs-, arbeits-, sozial-, finanzgerichtlichen) Rechtswegs erhoben werden (§ 45 Abs. 2 Satz 1 BbgVerfGG). Das Verfassungsgericht ist keine „Superrevisionsinstanz“ gegen Fehler der Fachgerichte. Es prüft nicht, ob z. B. die Vorschriften des BGB oder des Tarifvertragsrechts richtig angewendet wurden, sondern nur, ob durch die Entscheidung in ein Grundrecht oder grundrechtsgleiches Recht des Beschwerdeführers eingegriffen wurde.[]
  6. Nach Art. 103 Abs. 1 GG und Art. 6 EMRK hat vor Gericht jeder Anspruch auf rechtliches Gehör. Die Parteien sollen nicht bloß (an)gehört, sondern ihre Vorträge inhaltlich gewürdigt und bei der Urteilsfindung ggf. berücksichtigt werden. Zum rechtlichen Gehör zählt auch die Pflicht des Gerichts, über Rechte zu belehren und auf seine Standpunkte hinzuweisen.[]
  7. Das Paritätsgesetz wollte die politischen Parteien verpflichten, in den Landeslisten zur Landtagswahl abwechselnd Frauen und Männer zu berücksichtigen. Es wurde vom Verfassungsgericht als verfassungswidriger Eingriff in die Entscheidungsfreiheit der Parteien für nichtig erklärt.[]
  8. Gegenstand des Normenkontrollverfahrens von 31 Abgeordneten des Landtags war die seit dem Schuljahr 2012/2013 geltende Finanzierung der Ersatzschulen, die sie für unzureichend hielten. Das Verfassungsgericht stellte demgegenüber fest, dass die angegriffene Finanzierungsregelung im Einklang mit der Landesverfassung steht.[]

Über die Autoren

  • Andreas Dresen

    Filmregisseur, seit 2012 ehrenamtlicher Richter am Verfassungsgericht des Landes Brandenburg

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  • Bettina Cain

    2007–2018 Vorsitzende des Bundes ehrenamtlicher Richterinnen und Richter – Landesverband Brandenburg und Berlin e. V.

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  • Hasso Lieber

    Geschäftsführender Gesellschafter PariJus gGmbH, Rechtsanwalt, Staatssekretär a. D., Generalsekretär European Network of Associations of Lay Judges, 1993–2017 Vorsitzender Bundesverband ehrenamtlicher Richterinnen und Richter e. V., 1989–2022, Heft 1 Redaktionsleitung „Richter ohne Robe“

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