VerfGH BW: Besorgnis der Befangenheit einer ehrenamtlichen Verfassungsrichterin
- Da die Richter des VerfGH Baden-Württemberg ehrenamtlich tätig sind, kann ihre berufliche Tätigkeit durch besondere Umstände im Einzelfall Zweifel an der Unvoreingenommenheit wecken.
- Die Zugehörigkeit einer ehrenamtlichen Verfassungsrichterin als Rechtsanwältin zu einer Kanzlei ist für sich allein nicht geeignet, Zweifel an der Unvoreingenommenheit hervorzurufen. Das gilt auch bei von der Kanzlei geführten Verfahren auf dem Rechtsgebiet des konkreten Verfahrens beim VerfGH, wenn Verfahren der Kanzlei beim VerfGH nicht anhängig sind und das Mitglied des Gerichts mit der Bearbeitung in der Kanzlei nicht befasst ist.
- In bestimmten Konstellationen kann dies anders zu bewerten sein, z. B. wenn die Kanzlei sich auf bestimmte Arten von Mandaten spezialisiert hat und ein besonderes wirtschaftliches Interesse an der gerichtlichen Entscheidung ihrer Rechtsauffassung in Parallelverfahren hat.
- Bei der Beurteilung der Interessenlage kann die Zugehörigkeit der Verfassungsrichterin zu der Rechtsanwaltskanzlei nicht ohne Weiteres mit der einer leitenden Beamtin zu einem Ministerium in Bezug gesetzt werden (Leitsätze d. Red.)
VerfGH BW, Beschluss vom 21.11.2022 – 1 VB 98/19
Sachverhalt: In einem Verfahren wegen der Schließung von Spielhallen in der Stadt X. teilte die ehrenamtliche Verfassungsrichterin – Rechtsanwältin F. – mit, dass ein Partner ihrer Kanzlei je zwei Städte und Spielhallenbetreiber in glücksspielrechtlichen Angelegenheiten vertrete, sie selbst in die Verfahren aber nicht einbezogen sei. Die Auslegung der in dem verfassungsgerichtlichen Verfahren einschlägigen Normen spielten in den Verfahren der Kanzlei keine Rolle. Gründe für die Besorgnis einer Befangenheit sehe sie in ihrer Person nicht. Die Stadt X. vertrat die Auffassung, ähnlich wie etwa ein hochrangiger Beamter mit seiner Behörde identifiziere sich ein Anwalt mit der Sozietät sowie deren Mandaten, zumal nach üblichen Gepflogenheiten die gesamte Sozietät – und damit auch Richterin F. – mandatiert sein dürfte.
Rechtliche Würdigung: Bei der Besorgnis der Befangenheit geht es darum, bereits den „bösen“ Schein einer Voreingenommenheit zu vermeiden. Die Richter des VerfGH BW sind ehrenamtlich tätig, was die Möglichkeit eröffnet, dass die berufliche Tätigkeit im Einzelfall Anlass zu Zweifeln an der Unvoreingenommenheit gibt.
Die Tatsache, dass ein Partner der Sozietät der Richterin F. insgesamt vier Mandate aus dem Bereich des Spielhallenrechts betreut, ist nicht geeignet, Zweifel dieser Art zu begründen, sofern diese Verfahren nicht beim VerfGH anhängig sind und das Mitglied des Gerichts mit deren Bearbeitung nicht befasst ist. Eine Parallele zu einem früheren Verfahren bezüglich einer als Abteilungsleiterin im Justizministerium tätigen Richterin ist nicht gegeben. Damals stellte das Gericht entscheidend auf die Position der Richterin als hervorgehobene Führungskraft sowie die Betroffenheit der Behörde durch die Rechtsfragen der damaligen Verfassungsbeschwerde ab. Eine Anwaltssozietät ist nicht mit einem Ministerium vergleichbar, das als Teil der Landesregierung Staatsgewalt des Landes ist, gegen die sich Verfassungsbeschwerden richten. Bei der Mitwirkung eines hochrangigen Ministerialbeamten als Mitglied des VerfGH würde das Land in dessen Person gleichsam „auf der Richterbank“ sitzen. Dies ist bei Anwaltssozietäten nicht der Fall, sofern sie nicht in einem anhängigen verfassungsgerichtlichen Verfahren mandatiert sind. In der Kanzlei besteht auch kein behördentypisches Hierarchie- oder Weisungsverhältnis, das befürchten ließe, Mandate würden automatisch zur „eigenen Sache“ aller Partner. Rechtsanwälte vertreten zwar die Interessen ihrer Mandanten, allerdings als unabhängige Organe der Rechtspflege. Zudem kann die Klärung streitiger Rechtsfragen je nach der Verfahrenskonstellation unterschiedliche Folgen haben.
Link zum Volltext der Entscheidung
Zitiervorschlag: VerfGH BW: Besorgnis der Befangenheit einer ehrenamtlichen Verfassungsrichterin, in: LAIKOS Journal Online 1 (2023) Ausg. 1, S. 30.