T. Rapo: Videotechnologie im Strafverfahren
Tamara Rapo: Videotechnologie im Strafverfahren. Berlin: Duncker & Humblot 2022. 519 S. (Schriften zum Prozessrecht; Bd. 283) Print-Ausg.: ISBN 978-3-428-18622-8, € 119,90; E-Book: € 119,90
Bereits seit dem Ende der 1990er-Jahre sieht die StPO den (möglichen) Einsatz von Videotechnologie im Strafverfahren vor. Ausgangspunkt war dabei der Gedanke des Zeugenschutzes. Das Zeugenschutzgesetz führte die Zulässigkeit audiovisueller Aufzeichnungen der Vernehmung von Zeugen außerhalb der Hauptverhandlung ein (§ 58a StPO), sowie die Vorführung audiovisueller Aufzeichnungen in der Hauptverhandlung (§ 255a StPO) und die Zulässigkeit von audiovisuellen Simultanübertragungen von Zeugenvernehmungen außerhalb und innerhalb der Hauptverhandlung (§§ 168e, 247a StPO). Das JGG sieht seit 2019 in seinem § 70c vor, dass auch in Verfahren gegen Jugendliche und Heranwachsende die Vernehmung des Beschuldigten außerhalb der Hauptverhandlung in Bild und Ton aufgezeichnet werden kann. Die Autorin analysiert in ihrer Dissertation die praktischen Erfahrungen mit diesen Verfahrensmöglichkeiten und leitet daraus Verbesserungen durch den Gesetzgeber ab. Es verwundert nicht, dass aus den rechtstatsächlichen Untersuchungen der Folgezeit hervorgeht, dass insbesondere im richterlichen Bereich große Zurückhaltung herrscht. Der (zutreffende) Hinweis, dass über das Medium – je nach dessen Qualität und Bedienung – bestimmte Reaktionen der vernommenen Personen verborgen bleiben, kann dabei als Faktum nicht ignoriert werden. Der BGH hat diese Bedenken aufgegriffen (z. B. Urteil vom 15.9.1999, Az.: 1 StR 286/99).
Aus veröffentlichten Untersuchungen sowie eigenen Recherchen und Interviews leitet die Autorin eine Reihe von Vorschlägen zur Novellierung der einschlägigen Verfahren ab. Diese erstrecken sich auf die Vernehmung sowie deren Protokollierung. Insbesondere im letztgenannten Bereich können videografierte Protokolle den Schwächen des Inhaltsprotokolls entgegenwirken. Empirische Untersuchungen der (schriftlichen) Inhaltsprotokolle haben sog. Trägheits- und Ausdauereffekte herausgefiltert, wonach sich Verkürzungen, Wertungen und Missverständnisse der Vernehmenden bei der Protokollierung der Einlassung der Beschuldigten oder Aussagen der Zeugen von der polizeilichen Ermittlung über die Anklage bis in die Entscheidungen des Gerichts auswirken können. Hingegen geben Video-Protokolle von Vernehmungen im Ermittlungsverfahren einen unmittelbareren Eindruck wieder und vermeiden so die Perpetuierung von Fehlern. Auf diese Weise arbeitet die Autorin die verschiedenen Vernehmungsstadien durch und analysiert die Situation der Vernehmungs- und der Auskunftspersonen sowie die Fehlerpotenziale und deren Korrekturmöglichkeiten durch gesetzliche Regelungen von der videodokumentierten Vernehmung der Zeugen und Beschuldigten im Ermittlungsverfahren und deren Dokumentation bis zur Einführung in die Hauptverhandlung durch Simultanübertragung der Zeugenvernehmung und der Videodokumentation des Verhandlungsablaufs.
Auch die Schöffen spielen in der Arbeit eine Rolle, wenn auch nur am Rande. Die Autorin weist z. B. auf Schwierigkeiten hin, wenn eine Videosequenz nicht zu Beweiszwecken, sondern lediglich als Vorhalt eingespielt wird. Dann seien die Schöffen besonders darauf hinzuweisen, dass nur die Bekundung des Zeugen auf den Vorhalt, nicht aber die Bilddarstellung zu Beweiszwecken verwertet werden darf. Bei dem Beispiel drängt sich eine weitere Befassung mit der Rolle der Schöffen und ihrem notwendigen Wissen über die Beweisaufnahme unter Videobedingungen auf. Das BMJ hat den Entwurf eines Gesetzes zur „digitalen Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung“ zur Diskussion gestellt, in dem diese Überlegungen hinsichtlich der Schöffen noch keine Rolle spielen. Die fortschreitende Diskussion, zu der die Dissertation durch umfassende Analyse der tatsächlichen Auswirkungen im Vergleich von traditioneller und digitaler Protokollierung und Beweisaufnahme viel Argumentationsmaterial zur Verfügung stellt, wird auf diese Problematik eingehen müssen. Dass im rechtspolitischen Alltag handfeste Interessen an der Gestaltung des Strafprozesses – insbesondere bei der Objektivierung von Verhaltensweisen der Protagonisten im Verfahren – eine große Rolle spielen, machen die relativierenden Stellungnahmen auf Seiten der Richter und Staatsanwälte (nur Audio-Protokoll) und die vehemente Unterstützung durch die Anwaltschaft deutlich. (hl)
Zitiervorschlag: Hasso Lieber, T. Rapo: Videotechnologie im Strafverfahren [Rezension], in: LAIKOS Journal Online 1 (2023) Ausg. 1, S. 42-43.