×

Europäischer Tag der Ehrenamtlichen Richter 2024 in Leipzig

Von Ursula Sens, PariJus gGmbH

Abstract
Der Europäische Tag der Ehrenamtlichen Richter 2024 in Leipzig bot den Mitgliedsverbänden des Europäischen Netzwerks ENALJ Gelegenheit, aktuelle und strukturelle Entwicklungen des richterlichen Ehrenamtes zu diskutieren. Im Fokus der Generalversammlung standen Themen zu künftigen Aufgaben des Europäischen Netzwerks wie engere Zusammenarbeit mit den europäischen Gremien in EU und Europarat, ein neues europäisches Projekt zur Weiterbildung ehrenamtlicher Richter, Entwicklung von Ethik-Standards.

The European Day of Lay Judges 2024 in Leipzig offered an opportunity for member associations of the European Network ENALJ to discuss current and structural developments in the office of lay judges. The General Assembly focussed on topics relating to the future tasks of the European Network, such as closer cooperation with the european bodies in the EU and the Council of Europe, a new european project for the further training of honorary judges and the development of ethics standards.

Der diesjährige „Europäische Tag der Ehrenamtlichen Richter“ vom 10. bis 12. Mai 2024 in Leipzig wurde von der Vereinigung der Ehrenamtlichen Richterinnen und Richter Mitteldeutschlands e. V. (VERM) hervorragend organisiert. Neben dem gastgebenden Verband nahmen drei weitere deutsche Mitgliedsverbände des „Europäischen Netzwerks der Vereinigungen Ehrenamtlicher Richter“ (European Network of Associations of Lay Judges, ENALJ) teil. Der Bund Deutscher Schiedsmänner und Schiedsfrauen wurde von Marc Würfel-Elberg vertreten, der Bundesverband ehrenamtlicher Richterinnen und Richter von Petra Pinnow und Petra Ott und die PariJus gGmbH von Ursula Sens.
Wie gewohnt diente der Freitagabend dem informellen Austausch und Kennenlernen der Teilnehmer aus den Mitgliedsverbänden.
Zum Auftakt des „Europäischen Tags der Ehrenamtlichen Richter“ am 11. Mai wurden die Teilnehmer im Bundesverwaltungsgericht begrüßt von der Europaabgeordneten Karolin Braunsberger-Reinhold (CDU Sachsen-Anhalt), dem Präsidenten des Landesarbeitsgerichts, Dirk Eberhard Kirst, und Werner Neumann, ehemaliger Vorsitzender Richter am Bundesverwaltungsgericht, der den Teilnehmern die Entstehungsgeschichte des Gebäudes erläuterte und anschließend durch das historische Gebäude führte.

Mit der Gründung des Deutschen Reiches am 1. Januar 1871 wurde nicht nur die politische Einheit hergestellt, sondern auch die Rechtseinheit angestrebt. Dazu sind am 1. Oktober 1879 die sog. Reichsjustizgesetze – u. a. Gerichtsverfassungsgesetz, Zivilprozessordnung, Strafprozessordnung – in Kraft getreten. Zu den Errungenschaften der Reichsjustizgesetze zählen die richterliche Unabhängigkeit, wichtige Prozessgrundsätze wie Öffentlichkeit und Mündlichkeit der Verfahren sowie die Abschaffung nichtstaatlicher Gerichte. In der ordentlichen Gerichtsbarkeit wurden ein einheitliches Verfahrensrecht und ein einheitlich gegliederter Instanzenzug mit Amts-, Land-, Oberlandes- und Reichsgericht (heute: Bundesgerichtshof) eingeführt. Das Reichsgericht mit Sitz in Leipzig war der zuständige oberste Gerichtshof für Zivil- und Strafsachen, darüber hinaus auch in erster und zweiter Instanz zuständig für die Aburteilung von Hoch- und Landesverrat.
Nach seiner Gründung war das Reichsgericht zunächst provisorisch untergebracht. Der Neubau nach einem Entwurf der Architekten Ludwig Hoffmann und Peter Dybwad wurde am 26. Oktober 1895 eingeweiht, nach dem Reichstagsgebäude in Berlin der zweite bedeutende Staatsbau des Deutschen Reiches.1

Das Reichsgericht spiegelt in seiner Rechtsprechung die wechselvolle deutsche Geschichte wider – auch die dunklen Seiten. So war es Schauplatz politisch bedeutsamer Prozesse, die in die Rechtsgeschichte eingingen, wie der Reichstagbrandprozess 1933 mit der Verurteilung von Marinus van der Lubbe zum Tode. Die vier kommunistischen Angeklagten – u. a. Georgi Dimitroff – wurden jedoch freigesprochen. Deshalb wurde dem Reichsgericht die Zuständigkeit für Verfahren wegen Hoch- und Landesverrats entzogen und dem als Sondergericht neu gebildeten Volksgerichtshof übertragen.
Mit dem Einmarsch amerikanischer Truppen im April 1945 in Leipzig endete die Tätigkeit des Reichsgerichts. In DDR-Zeiten wurde das Gebäude u. a. als Georgi-Dimitroff-Museum genutzt.
Nach der Wiedervereinigung stellte sich die Frage, welches der Bundesgerichte künftig seinen Standort in Leipzig haben sollte. Die Empfehlung der Föderalismuskommission 1992 wurde aufgegriffen, das in Berlin ansässige Bundesverwaltungsgericht nach Leipzig zu verlagern. Dazu wurde das ehemalige Reichsgerichtsgebäude saniert und umgebaut. Als wichtiges Zeugnis der Vergangenheit sollte es aber möglichst authentisch erhalten bleiben. Am 26. August 2002 konnte das Bundesverwaltungsgericht seine Arbeit im Gerichtsgebäude aufnehmen.

Die Führung durch das Bundesverwaltungsgerichts veranschaulichte den Auftrag der Architekten, ein repräsentatives Gebäude für das Reichsgericht zu schaffen. So gehörte zur Präsidentenwohnung auch ein prachtvoller Festsaal für gesellschaftliche Anlässe. In ihrer ursprünglichen Form erhalten sind teilweise die historischen Sitzungssäle mit verzierten Holztüren und Wandpaneelen; diese Säle werden heute weiterhin für Gerichtsverhandlungen genutzt.

In den Wandnischen des Haupttreppenhauses symbolisieren zwei Figurengruppen des Bildhauers Otto Lessing die Verurteilung eines Straftäters („Verdammnis“) mit der sitzenden Justitia darüber, die den Stab bricht, und den Freispruch des Angeklagten („Erlösung“) mit einer Justitia, die die Friedenspalme hebt.

v.li.n.re: „Verdammnis“, „Erlösung“
Fotos: Ursula Sens

Auch die Außenfassade weist verschiedene Stilelemente auf und ist reich an bauplastischem Schmuck. Über der quadratischen Kuppel ist eine Laterne mit der Bronzefigur „Die Wahrheit“ zu sehen.
Am Unterbau der Kuppel befinden sich vier Frauenfiguren auf Adlern mit ausgebreiteten Flügeln, die in der einen Hand eine Fackel halten, in der anderen ein Buch – als Symbol, dass mit den höchstrichterlichen Entscheidungen des Reichsgerichts die „Wahrheit“ in das gesamte Deutsche Reich getragen wird.

Foto: Ursula Sens

Der Präsident des Europäischen Netzwerks der Vereinigungen Ehrenamtlicher Richter“ (European Network of Associations of Lay Judges, ENALJ), Rainer Sedelmayer, konstatierte zu Beginn der Generalversammlung Bewegung in den Mitgliedsverbänden des Europäischen Netzwerks. Die spanischen Organisationen Federación Estatal de Asociaciones de Justicia de Paz y Proximidad (FEDEAJUPA) und Asociación Democrática de Juzgados de Paz (ADJP) sind offenbar Opfer der spanischen Rechtspolitik in Bezug auf die (reduzierte) Beteiligung ehrenamtlicher Richter geworden. Dafür konnte er – nach dem Zugang des jetzigen Gastgebers VERM e. V. in der Sofia-Konferenz 2023 – den Beitrittsantrag der bulgarischen Stiftung „Ehrenamtliche Richter“ präsentieren. Intensivere Kontakte zu Vertretungen ehrenamtlicher Richter in Osteuropa und Dänemark sowie zu Initiatoren in Israel sind in Vorbereitung.

Mit den europäischen Organen in der EU (vor allem den Abgeordneten des Europäischen Parlaments) und dem Europarat (hier insbesondere der sog. Venedig-Kommission) soll – wie der Vizepräsident für Wissenschaft und Forschung Prof. Piotr Juchacz ankündigte – enger zusammengearbeitet werden. Die Mitgliedsverbände sollten gemeinsame Forderungen formulieren, die Erwartungen und gewünschte Richtungen für Reformen in der Beteiligung der Zivilgesellschaft an der Rechtsprechung aufzeigen. Als Beispiel nannte er die erfolgreiche Kampagne in England zur Anhebung der Altersgrenze für Friedensrichter auf 75 Jahre. Er selbst verfolge die Idee der Einführung eines Vertreters der Laienrichter in den Nationalen Räten der Justiz (oder deren Äquivalenten). Die Forderungen sollten „bottom up“ von den jeweiligen nationalen Organisationen im Europäischen Netzwerk zur Diskussion gestellt werden. Margherita Morelli machte in diesem Zusammenhang den Vorschlag einer europäischen Initiative für ehrenamtliche Friedensrichter, denen in weniger komplexen Fällen Kompetenzen übertragen werden, auch um einen Beitrag zur Straffung der Verfahren in der Justiz zu leisten.

v.li.n.re.: Daniela Heid, Hasso Lieber
Foto: Ursula Sens

Im Mittelpunkt der Generalversammlung stand der Vortrag von Professorin JUDr. Daniela Heid (Hochschule des Bundes für Öffentliche Verwaltung) zum Thema „Justiz und richterliches Ehrenamt in Europa“, der sich mit den verschiedenen Systemen der Beteiligung ehrenamtlicher Richter in den Mitgliedstaaten der EU, der Begründung dieser Teilhabe und der Verfassung der europäischen Gerichte und ihrem Einfluss auf das richterliche Ehrenamt befasste. Sie analysierte zudem die europäischen Verträge daraufhin, welche politischen Ansätze für eine Förderung der ehrenamtlichen Teilhabe aus europäischer Sicht bestehen. Obwohl in den Quellen des Gemeinschaftsrechts hinsichtlich der Mitwirkung von ehrenamtlichen Richtern keine ausdrücklichen Regeln vorhanden seien, da diese Beschlüsse den nationalen Rechtsvorschriften vorbehalten sind, sei es Ziel der Politik der Europäischen Kommission, die Beteiligung der Zivilgesellschaft zu gewährleisten.2

Die für Schulung und Weiterbildung zuständige Vizepräsidentin Margherita Morelli kündigte die Fortsetzung des Projekts SELECT durch die Universität Luigi Vanvitelli an – in Zusammenarbeit mit den Universitäten Camerino und Wien. Als SELECT D & D wird es sich mit dem europäischen Grundrecht auf Datenschutz sowie der Digitalisierung und den Auswirkungen auf das richterliche Ehrenamt befassen. Das Projekt ist auf die Schulung von ehrenamtlichen Richtern in praxisorientierten grenzüberschreitenden Seminaren ausgerichtet. In Vorbereitung ist die Bereitstellung von Lehrmaterial in den Sprache Englisch, Französisch, Deutsch und Italienisch. Europaweit sollen in Präsenz-Veranstaltungen und online bis zu 25.000 Personen erreicht werden. Die Versammlung hat die Teilnahme von ENALJ an dem Projekt gebilligt; für Deutschland wird das Projekt im Auftrag von ENALJ von der PariJus gGmbH, für Österreich, Belgien, Schweiz und Frankreich von der Union Européenne des Magistrats statuant en matière Commerciale (UEMC) umgesetzt.

Eine Arbeitsgruppe aus Vertretern Polens, Italiens, Finnlands, Deutschlands und Bulgariens soll unter der Leitung von Hasso Lieber den in Sofia 2023 beschlossenen Entwurf für ethische Standards der ehrenamtlichen Richter in Europa erarbeiten. Unter Berücksichtigung der verschiedenen Systeme zivilgesellschaftlicher Teilhabe an der Rechtsprechung in den europäischen Staaten sollen einheitliche Regeln der Rolle und des Verhaltens der ehrenamtlichen Richter definiert werden. Die Generalversammlung hat den Auftrag erteilt, bis zur Tagung in 2025 ein kurz gefasstes Thesenpapier zu entwerfen, das anschließend durch einen erweiterten Kommentar vertieft werden soll.

Rainer Sedelmayer konnte – verbunden mit dem Dank an den Gastgeber VERM – die Sitzung mit dem Hinweis schließen, dass die italienischen Verbände zu einer Tagung in Brescia am 18.10.2024 einladen. Diese wird sich mit dem Vergleich der europäischen Systeme zur Beteiligung ehrenamtlicher Richter und der Möglichkeit europäischer Harmonisierung oder Standardisierung befassen.

Die Teilnehmer am Europäischen Tag der Ehrenamtlichen Richter
vor dem Bundesverwaltungsgericht
Foto: Marko Goschin

Dieser Beitrag steht unter der Creative Commons Lizenz CC BY-NC-ND Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 4.0 International.

  1. Zur Geschichte des Gebäudes [Abruf: 1.7.2024].[]
  2. Zu diesem Thema wird im 2. Halbjahr 2024 ein ausführlicher Beitrag von Prof.in JUDr. Heid in LAIKOS Journal Online erscheinen.[]

Über die Autoren

  • Ursula Sens

    Geschäftsführerin PariJus gGmbH, 1994–2018 Vorsitzende Deutsche Vereinigung der Schöffinnen und Schöffen – Bund ehrenamtlicher Richterinnen und Richter – Landesverband NRW e. V., 1995–2022, Heft 1 Mitarbeit Redaktion „Richter ohne Robe“

    Alle Beiträge ansehen

Copyright © 2024 laikos.eu